Wenn aus einem Rückruf ein Skandal wird: GM rief erneut 1,3 Millionen Fahrzeuge zurück, Mary Barra wurde vor den US-Kongress zitiert. Es drohen Milliardenklagen.
Detroit/Washington – Ein Land klagt an, und auf dem Büßerstuhl sitzt der größte heimische Autohersteller: General Motors. Im Büßerhemd: Die neue Konzernchefin Mary Barra. Sie muss in dieser Woche vor einem Kongress-Ausschuss aussagen. Kurz vor der Anhörung in Washington rief GM am Montag weitere 1,3 Millionen Wagen weltweit zurück. Bei diversen Modellen könne die Servolenkung plötzlich ausfallen. Damit steigt die Gesamtzahl der von GM zurückgerufenen Fahrzeuge auf 6,3 Millionen. Allein 2,6 Millionen Fahrzeuge hat die Opel-Mutter wegen Problemen mit den Zündschlössern zurückgerufen, die Unfälle mit mindestens 13 Toten verursachten. Die wichtigste Frage der Politiker: Wurde das Problem ein ganzes Jahrzehnt lang ignoriert? Barra hätte auch gern AntwortenBei der Befragung gerät Mary Barra mehrmals ins Stocken. "Ich will selbst die Antworten auf die Fragen, die Sie stellen", sagte Barra während der zweieinhalb Stunden langen Sitzung. GM hat den Anwalt Anton Valukas engagiert, der für Aufklärung sorgen soll. Barra sagte, sie selbst habe erst am 31. Januar von dem Fehler erfahren. Auch die NHTSA muss aussagenDie Ermittler häuften rund 235.000 Seiten an Unterlagen an, um die Sitzungen am Dienstag und Mittwoch vorzubereiten. Der Ausschussvorsitzende Tim Murphy diagnostiziert ein „beunruhigendes Bild“ – es scheint offensichtlich, dass GM spätestens seit 2005 von den Problemen wusste und nichts unternahm. Mary Barra entschuldigte sich zum wiederholten Male für die tödlichen Unfälle, die Amerika den Produkten ihres Konzerns zuschreibt. Barra versprach schon vor Wochen: Wir kümmern uns und gehen jedem Verdacht nach. Es waren keine leeren Ankündigungen, wie die immer neuen Rückrufe zeigen. Die Politik hat nicht nur Fragen an GM. Auch David Friedman, Kontolleur der Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA, muss vor den Ausschuss. 2007 entschied sich die NHTSA gegen Untersuchungen, trotz vier tödlicher Crashs, 29 Beschwerden und vielen Hinweisen auf gefährliche Mängel der Zündschlösser. 2010 kam die NHTSA nach Berichten über Airbags, die nicht öffneten, zu derselben Entscheidung. Der Kongress will nun wissen, an welcher Stelle „das System“ versagt hat. Der Verdacht: Die tödlichen Unfälle hätten mit minimalem Aufwand vermieden werden können. Der Zulieferer Delphi, der die Originalschlösser hergestellt hatte, gibt an: Der Wechsel des Zündschlosses sei eine Sache von wenigen Minuten, in der Produktion kostet das Teil zwischen 2 und 5 Dollar. Der Konzern wird bei seiner Strategie bleiben: Alles zugeben, jedes technische Detail untersuchen. Aber GM wird keinen der damaligen Entscheider öffentlich anprangern – schon gar keine ehemaligen Vorstände. Wegen der Unfälle hat noch kein GM-Mitarbeiter seinen Job verloren. Auch der Bericht der internen Untersuchung soll keinesfalls komplett veröffentlicht werden. Hinterbliebene fordern EntschuldigungDas Anprangern übernehmen bereits zahlreiche Anwälte, auch im Namen der Hinterbliebenen der Opfer. Ein Fall: 2005 starb die sechzehnjährige Amber Mary Rose, in einem Chevrolet Cobalt. Sie fuhr schnell, 69 Meilen pro Stunde (111 km/h). Das Auto kam von der Straße ab und rammte einen Baum, der Airbag löste nicht aus. Bei der nachfolgenden Untersuchung wurde festgestellt: die Zündung des Autos stand auf „accessory“. Es ist also möglich, dass sie während der Fahrt zurücksprang. Allerdings hatte Rose auch Alkohol getrunken und war nicht angeschnallt. Der texanische Anwalt Bob Hilliard vertritt mehrere Hinterbliebene nach Unfällen, die möglicherweise mit GMs Zündschloss-Problem zu tun haben. Er lud Barra ein, die „Überlebenden des GM-Betrugs“ zu treffen. „Die Opfer müssen von Ihnen hören, mit Ihrer Stimme, dass es Ihnen leid tut und dass Sie ihre Trauer teilen“, zitiert die Detroit News den Anwalt. Aktionär fordert SchadensersatzAuch der GM-Aktionär Richard Hockstein erhebt vor dem Bezirksgericht Detroit Anklage gegen General Motors, namentlich unter Anderem gegen Mary Barra, den Vorstand Tim Solso und die Ex-Chefs Ed Whitacre und Dan Akerson. Seiner Meinung nach haben die Vorstände ihre Aufsichtspflicht für die Sicherheit ihrer Autos verletzt. Nun sei den Anlegern großer Schaden entstanden: Der Rückruf füge GM einen Milliardenschaden zu, beschädige die Reputation und setze GM nicht absehbaren Schadensersatzansprüchen aus. Es wird teuer für GMMit Letzterem könnte Hockstein recht behalten: In Kalifornien streben Anwälte einen weiteren Prozess an, gegen GM und den Zulieferer Delphi. Sie wollen Schadensersatz für Besitzer der betroffenen Fahrzeuge. GM habe die Käufer zweifach getäuscht, bezüglich der Sicherheit und bezüglich des Wertes ihrer Fahrzeuge. 12 Kläger fordern insgesamt fünf Millionen Dollar Entschädigung. „GM hat uns alle jahrelang wissentlich einem unnötigen Risiko auf der Straße ausgesetzt“, sagt W. Damniel Miles, Teilhaber der klageführenden Kanzlei gegenüber US-Medien. Dies könne ein „inadäquater Rückruf“ nicht wettmachen. Die Kosten des Rückrufs beziffert GM aktuell auf 750 Millionen US-Dollar (544 Mio. Euro). Bei den reinen Rückrufkosten wird es nicht bleiben.Toyota zahlte den vom Massenrückruf 2009 betroffenen Fahrzeughaltern am Ende über eine Milliarde Dollar. Das Geld sollte einen angeblichen Wertverlust ihrer Fahrzeuge kompensieren. Zum aktuellen GM-Fall gibt es aber einen großen Unterschied. Eine tatsächliche Schuld an tödlichen Unfällen konnte Toyota nicht nachgewiesen werden. Das ist bei GM anders. Das Drama hat seinen zweiten Akt erreicht, die Protagonisten müssen zittern. Wie tief sie am Ende fallen, weiß aktuell niemand. Quelle: dpa; Bloomberg, Detroit News |