Audi macht den Bodybuilder zum Athleten: Der RS6 wird nominell schwächer, dafür schlanker, sparsamer und schneller.
München – Seit acht Jahren sitzt ein kleiner Engel in meinem Golf. Auf ihm steht: „Fahre nie schneller, als ich fliegen kann!“ Meine Mutter hat ihn mir geschenkt – er soll meine Höchstgeschwindigkeit auf etwa 130 km/h begrenzen, denn mehr ist „viel zu schnell.“ Natürlich fliegt er deutlich schneller. Aber beim Anblick des neuen RS6 mache ich mir zum ersten Mal Gedanken, ob mein hölzerner Talisman mithalten kann. Der Kombi schafft 305 km/h – 2 km/h mehr als sein Vorgänger, 105 km/h mehr als mein GTI. Bei dieser Geschwindigkeit drehen sich die Räder 40 Mal pro Sekunde, ein Wimpernschlag entspricht einer Strecke von 8,5 Metern. Ein Tempo für Profis, zu viel für den Straßenverkehr. Audi RS6: Neue PrioritätenDa wundert es wenig, dass Audi den elektronischen Riegel beim neuen RS6 nur marginal nach oben verschiebt. Die 3 in der Endgeschwindigkeit bedeutet Prestige, die 5 einen gewissen Vorsprung vor allen ausgelaufenen Generationen. Im Gesamtbild wird sie zur Nebensache, Agilität und Dynamik rücken in den Vordergrund. Eine Fitness-Kur soll die Muskelmasse des Vorgängers in einen definierten Körper verwandeln. Für dieses Ziel geht Audi ungewohnte Wege. Zum ersten Mal sparen die Ingenieure bei einem RS6 am Motor. Sie opfern zwei Zylinder, 1,0 Liter Hubraum und 20 PS einem leichteren Fahrzeugvorderbau. Ein 4,0-Liter-V8 mit zwei Twinscroll-Turboladern und 560 PS ersetzt den alten V10. Der Motor stammt in seinen Grundzügen aus dem S6. Für den Einsatz im RS6 bekam er modifizierte Turbolader und eine neue Software, außerdem fehlt ihm die Drossel im Ansaugtrakt. Der Erfolg dieser Maßnahme ist eine fast perfekte Gewichtsverteilung von 52 zu 48. Quelle: Audi Insgesamt verliert der RS6 zwar 100 Kilogramm, wiegt aber dennoch fast zwei Tonnen. Auf dem NEFZ-Prüfstand soll er nur 9,8 Liter pro 100 Kilometer getrunken haben. In der Praxis wird er zum Säufer: Zwischen 13 (wenig) und 23 Liter (ambitioniert) fließen durch die Brennräume. Kraft statt LeistungSchon auf den ersten Metern im RS6 spüre ich Vieles, aber keinen Mangel an Leistung. Einerseits kompensiert Audi die 20 eingebüßten PS mit zusätzlichen 50 Newtonmetern Drehmoment: Zwischen 1.750 und 5.000 Touren schickt der V8 700 Newtonmeter an die Achtgang-Automatik. Andererseits bezweifle ich, dass mir in der Leistungsklasse über 500 PS die fehlenden 20 Pferde auffallen würden. Gespartes Gewicht und gestiegenes Drehmoment lassen den RS6 in 3,9 Sekunden von 0 auf Tempo 100 sprinten. In diesem fast 5 Meter langen Kombi fühlt sich das wie ein Auffahrunfall an. Dank permanentem Allrad-Antrieb und elektronischen Helfern geht dem RS6 nie die Traktion aus. Audi RS6: Technik gegen TrägheitQuelle: Audi Erfahrungsgemäß erwarte ich bei einem zwei Tonnen schweren Kombi mit V8-Frontmotor eine gewisse Trägheit. Untersteuern bei flinken Kurven, Aufschaukeln bei vielen Richtungsänderungen. Doch der RS6 widerspricht meinem Verständnis für Physik. Dank variabler Momentenverteilung bremst er zu schnelle Räder nicht aus, er beschleunigt die anderen. Das ermöglicht ein Kurvenverhalten, wie ich es sonst nur von Sportwagen kenne. Das RS-Heck lenkt sicher mit und rutscht erst bei extremen Manövern aus der Spur. Auf Landstraßen fällt es mir ausgesprochen schwer, die Geschwindigkeitsbeschränkungen zu respektieren. Selbst vor engen Kurven bremse ich nur, wenn ein Tempolimit mich dazu zwingt. Die Spielwiese für meine Sucht nach Geschwindigkeit finde ich auf der Autobahn. Ein freundlicher Verkehrsteilnehmer möchte die rechte Spur für mich räumen. Er blinkt, schaut nach hinten und sieht mir dann verwundert hinterher, als ich auf dem Beschleunigungsstreifen an ihm vorbeiziehe. Im RS6 bleibt alles ruhig, selbst Geschwindigkeiten jenseits der 200 wirken mindestens 50 km/h langsamer. Bei einem Audi S6 lässt die Beschleunigung ab 220 km/h spürbar nach - der RS6 zieht selbst bei 270 noch beeindruckend an. Was vom A6 übrig bliebKaum zu glauben, dass der Sportler auf dem biederen A6 basiert. Damit die Optik zu den Fahrleistungen passt, wurde das Blech umfangreich bearbeitet. Die vorderen Türen und die Dachhaut stammen noch vom A6, alle anderen Karosserieteile sind neu. Selbst der Tankdeckel musste an die ausgestellten Kotflügel angepasst werden. Insgesamt geht der RS6 6,2 Zentimeter in die Breite, in die ovalen Auspuffendrohre passt meine ganze Faust. Geschwindigkeit gegen AufpreisDer abgespeckte RS6 startet im Juli 2013 für 107.900 Euro. Mit dabei sind immer ein adaptives Luftfahrwerk, sportliches Leder-Gestühl, Karbon- sowie Aluminiumelemente im Innenraum und eine elektronische Begrenzung auf 250 km/h. Letztere lässt sich gegen Aufpreis aufheben: Für 1.500 Quelle: MOTOR-TALK zusätzliche Euro fährt der RS6 280, für 12.900 Euro 305 km/h. Das Hochgeschwindigkeitspaket enthält die 8.250 Euro teure Keramikbremsanlage, modifizierte Sturz- und Spurwerte und einen höheren Reifendruck. Wer jetzt nach einer Möglichkeit sucht, den RS6 vor dem Familiengericht zu rechtfertigen, dem serviert Audi gleich mehrere Argumente: Erstmals gibt es den Vorzeige-Kombi (für 980 Euro Aufpreis) mit einer Anhängerkupplung. 2,1 Tonnen Anhänglast und bis zu 1.680 Liter Kofferraumvolumen könnten genügen, um Teile der Familie zu überzeugen. Nur eine Standheizung gibt es nicht – trotz der neuen Sparsamkeit ist dafür im Motorraum kein Platz mehr. Auch mit Dachbox nicht spießig: Der Audi RS6 Avant des Tuners Stertman Motorsports. Audi RS6 Avant: Technische Daten
Quelle: MOTOR-TALK |