Vor wenigen Monaten berichteten wir hier über einen rostigen DKW-Umbau auf Ebay. Was genau das für ein Auto war, wusste nicht mal der Verkäufer. Wir wissen es - jetzt.
Quelle: Keith Misner via unsplash.com (CC 3.0) & Privatmaterial Berlin/Wiesbaden – Die Augen von Annette Braun wurden feucht, als sie das Auto im Internet entdeckte. So erzählt sie es uns ein paar Tage später am Telefon. Niemals hatte sie erwartet, den DKW 3=6 ihres Vaters einmal wieder zu sehen - das Auto, mit dem sie Hunderte von Erinnerungen verbindet. Ihr Sohn entdeckte es auf der MOTOR-TALK-Facebookseite. Ein Zufall oder Schicksal: außer ihm hätten nur Wenige das Auto überhaupt erkennen können. Quelle: Jarren Simmons via unsplash.com (CC 3.0) & 321raus via eBay Der DKW 3=6, den der Ebay-Nutzer „321raus“ am 20. Oktober 2015 in einer Online-Auktion verkaufen will, ist als solcher nicht mehr zu erkennen. Das Heck ähnelt dem eines Auto Union 1000 SP. Nur passt der Rest des Autos nicht zu diesem flotten Coupé. Die Front wirkt seltsam zusammengebastelt, das Dach viel zu hoch. Nicht mal der Verkäufer selbst weiß, was er da anbietet. Als die MOTOR-TALK-Redaktion auf die Auktion aufmerksam wird, fragten wir einen Experten vom Auto-Union-Veteranen-Club (AUVC), worum es sich handelt. Er kennt den 3=6 seit mehr als 30 Jahren. Wir schreiben unseren Artikel – und wenig später meldet sich Annette bei uns. Wir werden neugierig. Welcher Mensch baut so ein Auto und warum? Annette kann es uns erzählen. Sonst niemand. Ein Individualist und LebenskünstlerIhr Vater, Günther Braun, war Ingenieur bei der Deutschen Bundespost. Er hatte bereits ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und ein Kind gezeugt – offenbar war ihm das nicht genug in seinem Schaffensdrang. Anfang der 60er fing er an, seinen DKW umzubauen. Quelle: Kindfolk via unsplash.com (CC 3.0) & Privatmaterial Ein 3=6, das war selbst damals einfachste Mobilität. Gebaut wurde das Modell F93 bis 1959. Als Porsche beim ersten 911 auf 130 PS und 2,0-Liter-Sechszylinder-Boxer setzte, Mercedes-Benz beim 300 SE auf Heckflossen und Amerika wie immer auf großvolumige V8, da war der kleine DKW schon ein paar Jahre alt. Und im Motorraum schuftete ein Dreizylinder-Zweitaktmotor mit knapp 40 PS. Für Günther Braun war das Einheitsblech nichts. Er war „ein Individualist und Lebenskünstler durch und durch“, sagt seine Tochter. Günther Braun ersetzte den 0,9-Liter-Motor durch eine 1,2-Liter-Maschine mit 60 PS aus einem späteren F102. Eine der kleineren Arbeiten. Der 1924 geborene Ingenieur operierte die Windschutzscheibe eines Opel Rekord inklusive Rahmen in den 3=6. Mühevoll modellierte er das Heck mit ein paar Auto-Union-Teilen und viel Spachtelmasse zu dem eines Straßenkreuzers um. Dem TÜV Hessen gefiel das anfangs nicht. Die Heckflossen waren zu spitz, Günther Braun musste sie entschärfen. Quelle: Martin Wessely via unsplash.com (CC 3.0) & Privatmaterial Die wilden 60er auf RädernAber hey, es waren die 1960er. Mondlandung und Mauerbau, Kennedymord und Kubakrise. Es gab damals mehr Restriktionen - vor allem gesellschaftlich. Aber auch mehr Freiheiten – wenn man sie sich nahm. Und Günther Braun griff zu. Bei einem Fahrradunfall hatte er mit Anfang 20 sein linkes Auge verloren. Um die Sicht zu verbessern, teilte er den linken Seitenspiegel seines Autos in zwei und konnte so besser in den toten Winkel sehen. Das große Lenkrad schnitt er kurzerhand in der Hälfte durch und verkorkte die Enden mit Minigolfbällen. Endlich gab es freie Sicht über das Armaturenbrett. Als Krönung montierte er die selbstgegossene, 20 Zentimeter große Bronzefigur einer Eidechse auf der Motorhaube des kleinen DKW. Weil der TÜV so etwas schon damals nicht gerne sah, schraubte er sie vor jedem Besuch wieder ab. Die kleinen Freiheiten. Die große Freiheit wartete jedes Jahr beim Mittelmeerurlaub. „Geschätzte 10 Mal ging es quer durch Österreich, Schweiz, Frankreich, über die Pyrenäen und Andorra bis ans Mittelmeer und natürlich auch wieder zurück“, erinnert sich Annette Braun lebhaft. Wahrscheinlich, weil ihr als Kleinkind auf der Rückbank regelmäßig schlecht wurde. Günther Braun fand auch dafür eine Lösung. Er schnitt den Hals einer Lenor-Flasche ab. Zu oft wollte er nicht anhalten. „Die machen das nicht ordentlich“Günther Brauns damals noch türkisfarbener DKW war Stadtgespräch und Attraktion, wo immer er vorfuhr. „Das ist ein Wasser-Auto“ schwärmten Fantasten. „Nein, nein, das ist sicher irgend so ein Ami-Schlitten“ erwiderten die Besserwisser. Mitte der 60er-Jahre gewann der 3=6 auf einer Automobilausstellung in Wiesbaden die silberne Nadel des AvD, obwohl eigentlich ausschließlich Fahrzeuge im Originalzustand prämiert werden sollten. Rückschläge konnten Günther Braun nicht beirren. Als seine Frau frisch den Führerschein bekam, durfte auch sie den DKW bewegen. Doch die erste Fahrt fand ein jähes Ende. Frau Braun vergaß, vor dem Herausfahren aus dem Carport die nach hinten öffnende Beifahrertür zu schließen. Wieder folgte wochenlanges Schweißen, Ausbeulen, Spachteln, Lackieren. „Wann immer ich meinen Papa suchte, er lag zu 100 Prozent ölverschmiert unterm Auto“, sagt Annette Braun. Eine Werkstatt sah der DKW nie. „Die machen das nicht ordentlich“, erklärte Günther Braun seiner kleinen Tochter damals. Quelle: MOTOR-TALK Screenshot Erst viele Jahre später wurde die Schrauberei Günther Braun zu viel. Ende der 70er verkauft er den 3=6 – angeblich an einen Liebhaber. Bei seiner Tochter flossen Tränen. Sie verabschiedet sich mit einem Kuss auf die Motorhaube. Viele Jahre später, am 20. Oktober 2015, wechselte der mittlerweile braun lackierte DKW 3=6 von Günther Braun auf Ebay für stolze 15.001 Euro den Besitzer – obwohl dieser vielleicht gar nicht wusste, was er da kauft. Was der DKW in den vielen Jahren dazwischen erlebt hat, wissen auch wir nicht. Aber vielleicht erfahren wir auch das noch – wenn es der Zufall will. |