Gesucht wird ein Mercedes für wenig Geld. Bedingung: ansehnlich, fahrbereit, halbes Jahr TÜV, ein paar Hundert Euro. Oft gehörter Satz auf der Suche: "Läuft gut, innen sauber" - gehalten wird er nur in den seltensten Fällen. Man vermisst es schon. Das satte "Plopp" beim Lösen der Fußfeststellbremse. Ein Daimler-typisches Ritual, zelebriert vor dem Antritt jeder Fahrt. Alte Mercedes sind meist Kilometerkönige Die unerhörte Lässigkeit des Mercedes-Losfahrens, unterstützt vom durch die Kulisse gleitenden Automatik-Wählhebel, beherrscht der manganbraune 86er 190 E mit 232.000 Kilometern nicht ganz so souverän. Man muss zuvor erst nach der Handbremse zwischen den dattelfarbenen Sitzen fingern. Der Motor ist noch kalt, er klappert nach langer Standzeit - sind es die Hydrostößel, hat er überhaupt welche? Er ist für nur 790 Euro ein chancenreicher Kandidat für den selbst gewählten Youngtimer-Contest "Deutschlands billigster Mercedes". Er sieht bestechend aus, harmloser Rost findet sich lediglich unter ein paar Lackabplatzern, ist innen fast neuwertig, hat noch TÜV bis September 2010 und bezaubert mit elementar notwendigen Extras wie Automatik, Schiebedach und Colorglas. Als wichtiger Schlüsselreiz für Mercedes- Infizierte gesellt sich zum attraktiven Extra-Ensemble noch eine ungewöhnlich leuchtende und extrem seltene Metallic-Farbe - manganbraun, Code 480. Während der ausgelassenen Probefahrt im späten Nachmittagslicht entfacht sie ihr ganzes mystisches Feuer. Alexander Filin, Gebrauchtwagen- Händler in der Truderinger Straße, einer vor allem bei professionellen Aufkäufern beliebten Automeile Münchens, gesteht: "Ich habe ihn vor allem wegen der Farbe reingenommen, die hat mich fasziniert. Zusammen mit der Automatik und den makellosen Polstern wird aus einem gewöhnlichen 190er ein Liebhaberauto." Ausnahme: Alle Kundendienste und alle Papiere Filin ist Auto-Kenner mit einem Faible für das Besondere, manchmal spricht der groß gewachsene Mann mit dem freundlichen Jungengesicht wie ein verkappter Auto- Philosoph. Etwa wenn es um den nauticblauen 230 GE Automatik drüben hinter seinem kleinen Verkaufspavillon geht - kurzer Station, erst 83.000 Kilometer, für 6.350 Euro. "Ein ganz und gar besonderes Auto", schwärmt Filin, "alle Kundendienste, alle Papiere". Er will mir und dem Fotografen Frank Herzog einen günstigen Stern-Paketpreis machen. Die Probefahrt dient nicht nur dem Motor zum Warmwerden. Der W 201 ist für mich eine gänzlich neue Versuchung. Typisch für den Baby-Benz aus Bremen sind auch ein körperbetontes Raumgefühl, das ein wenig unter den Achseln kneift und ein an sich guter Qualitätseindruck, der vom arg blechern klingenden Heckdeckel und von den stets mit Nachdruck zu schließenden Türen nur wenig getrübt wird. Doch selbst in dem nur 4,42 Meter langen und 1.180 Kilogramm schweren Wagen stellt sich schnell das geborgene, sichere und vor allem sehr vertraute Mercedes-Gefühl ein. Es wird von einem Schuss verspielter Leichtfüßigkeit abgerundet. Der Wagen ist auch mit nur 122 PS unerhört agil und handlich, die formidable Raumlenker-Hinterachse, jene ingeniöse Kampfansage an ungefederte Massen und mangelnde Spur- und Sturzkonstanz, stolzer State-of-the-Art gleich mehrerer Mercedes-Benz-Generationen, im 201 feierte sie einst Premiere. Die Sacco-Mercedes überzeugen mit ihrer zeitlosen Sachlichkeit Der 190 reizt anders als sein betulicherer Bruder W 124 zum Schnellfahren, zum Kurvenräubern. Er war auch Vorbote des sachlich-funktionellen Sacco -Designs. Seine ebenso kühle wie kühne Schmucklosigkeit schuf einen neuen Standard, ein Mercedes ohne das übliche Offiziers-Lametta. Er entpuppt sich als zeitlos, neben einem Ford Sierra oder einem Audi 80 aus den frühen Achtzigern wirkt der 190 E wie ein Neuwagen. Trotz seltsam eingezogenem Kamm-Heck, eckigen Radläufen und schmaler Silhouette. Das Klappern bleibt auch bei warmem Motor. Der Öldruck sinkt bedenklich unter ein bar, die orangene kleine Nadel zittert. Filin will es in seiner Stammwerkstatt prüfen lassen, 700 Euro, "einen gebrauchten Zylinderkopf inklusive, wenn es sein muss", beschwört er uns, aber wir ziehen schon wieder weiter. Über die Kiesplätze der Isar-Metropole, die Sonne knallt vom Himmel, Grillrauch steigt auf, glitzernde Fähnchen wehen knisternd im Wind. Überall treffen wir auf Dutzende alter Mercedes, 124er und 201er, buntes Farbspiel einer vergangenen Epoche, von Bornit bis Almandin. Verwohnter Besitzerstolz - aufgerissene Sitzwangen, rote Feinstaub-Plaketten bei den Dieseln. Zwischen 800 und 2.000 Euro liegen die meisten. Ihre Preisschilder sind vergängliche Artefakte multikultureller Sprachgewandtheit. Schillernde Verkaufsversprechungen preisen die alten Sternträger an "Läuft gut, innen sauber" steht drauf oder "vom alten Mann gepflegt gefahren". Einer schreibt gar zu einem schwer angezählten diamantblauen 260 E mit Velours "Fährt nur rückwärts". Gut zwanzig Jahre nachdem sie mit einem Blumenstrauß auf dem Beifahrersitz "für die werte Gattin" den marmornen Mercedes-Schauraum verlassen haben, tragen alle die Kampfspuren der Jahrzehnte. Rostgeschwüre um Antennenlöcher und Kofferraumschlösser, zugeschweißte Wagenheberaufnahmen, milchige Verbundglasränder, abgebrochene Sterne, geschrumpfte Türverkleidungen, glatt geriebene Lenkräder. 482.000 Kilometer zeigt der höchste Tachostand. Stille Spuren des Verfalls, für die ausgerechnet die als unverwüstlich geltende Mercedes so anfällig scheinen. Sie sind es schon kraft ihrer enormen Verbreitung. Da wird selbst ein Golf II zur Rarität. In diesem russischen Moment kontemplativer Schwermut rollt Gebhard Reiter im Schritttempo an uns vorbei. Alter 190 E ohne Flankenschutz, rote Augsburger Nummer, zwei Auspuffrohre, diamantblauer Lack. Der Wagen passt perfekt in unser Beuteschema, nur die geschwärzten Rückleuchten und die weißen Blinker turnen ab. Zuschlag fällt bei 400 Euro Gebhard, selbst Autohändler, aber im gehobenen Segment tätig, will 500 Euro von einem türkischen Aufkäufer. Der telefoniert lange mit "Kollega", murmelt lakonisch "Dreihundertfünfzig". Ich höre mich geistesgegenwärtig "Vierhundert" sagen - der 87er 190 E 2.6 aus dritter Hand mit 261.000 km auf dem Tacho gehört mir. Gebhard taut zunehmend auf, wundert sich ein wenig: "Normal kauft so ein Auto trotz Euro 2 hierzulande kein Mensch. Zu alt, zu viele Kilometer, das stelle ich mir nicht mehr auf den Hof", sagt er und freut sich lebhaft, einen deutschen Liebhaber gefunden zu haben. "Das Auto ist nicht schlecht", räumt er ein, "im Stand ruckelt er ein wenig, und das elektrische Schiebedach geht nicht." In den Zeiten der Abwrackprämie ist es ein Schandpreis, der einen maroden Teileträger vermuten lässt, aber keinen quicklebendigen, bestens ausstaffierten Premium-Kompaktwagen mit ein paar gelebten Jahresringen um die markant betonten Radläufe. Sogar ein Radio stimmt den aufgewühlten Schnäppchenjäger heiter, mit fernem Surren fährt die elektrische Antenne aus. Leise und kultiviert setzt sich der immerhin 160 PS starke Wagen in Bewegung. Das Gaspedal geht schwer, auch eine typische Mercedes-Marotte, aber die Automatik schaltet früh und weich. Okay, hinten rechts hatte er mal einen Treffer, doch irgendwie ist der Kleine süß, mit den Original-Alu-Rädern und den vorwitzig blauen Außenspiegeln. Ich kaufe dem Wägelchen einen Wunderbaum Vanille, wie einem Kind ein Eis. Und ein neues, glänzendes Zweisechs für hinten drauf, das hat es sich verdient.
Quelle: Motor Klassik |
verfasst am 24.03.2011
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