In den USA werden seit Beginn des Jahres alle Rückruf-Rekorde gebrochen. Wie sieht es bei uns aus, und: geht es wirklich immer um Sicherheit? Wir fragten die Fachleute.
Quelle: Alex Wong/Getty Images Berlin - General Motors bricht alle Rückruf-Rekorde: Allein in Nordamerika rief das Unternehmen im ersten Halbjahr 2014 fast 30 Millionen Autos zurück. Gefühlt stieg die Zahl der Rückrufe in den vergangenen Jahren deutlich. Geht es dabei immer nur um Sicherheit? Wird die Qualität so viel schlechter? Theoretisch freut sich keiner über Rückrufe. Autofahrer müssen in die Werkstatt, Hersteller verlieren Geld. Immerhin eines wird in diesen Tagen klarer: Schlagzeilenintensive Massenrückrufe sind ein amerikanisches Thema. Deutschland bewegt sich konstant bei weniger als 200 Rückrufen pro Jahr. 2013 notierte das KBA 180 Rückrufe und 770.262 betroffene Halter. Hersteller in der PflichtQuelle: dpa/Picture Alliance In Deutschland wie in den USA müssen die Hersteller bekannte Probleme melden, die direkt die Sicherheit des Fahrzeuges beeinträchtigen können. In Deutschland dem Kraftfahrtbundesamt (KBA), in den USA der National Highway Traffic Security Administration (NHTSA). Die meisten Rückrufe stoßen die Hersteller wegen dieser Meldepflicht selbst an, in Deutschland sind es 70 bis 80 Prozent. Für Andreas Immen, Sprecher des KBA, ist das logisch: „Der erste Impuls bei einem Problem ist ja nicht, zum KBA zu gehen, sondern in die Vertragswerkstatt“, sagte er zu MOTOR-TALK. Durch eigene Tests und den Kundenkontakt bei Inspektionen und Wartungen haben Hersteller beste Möglichkeiten, Fehler zu entdecken. Geht es immer um die Sicherheit?Geht es bei Rückrufen wirklich immer um die Sicherheit? Zunächst bewerten NHTSA und KBA nicht jeden Fall gleich. 2012 betrafen zum Beispiel 14 Prozent der Rückrufe in Deutschland die Lüftung und Heizung. Wenn sie nicht funktionieren, können Scheiben beschlagen – für das KBA ist das sicherheitsrelevant. Demgegenüber schließt die NHTSA diese Komponenten explizit aus ihren Bewertungen aus. Aber benutzen Hersteller das Rückruf-Instrument für andere Zwecke, etwa um sich ein fürsorgliches Image zu geben oder Kontakt zum Kunden zu halten? Immerhin, so zitiert der Mitteldeutsche Rundfunk „Autopapst“ Andreas Kessler, ist ein Rückruf für den Hersteller eine Chance: Der Kunde kommt ins Autohaus, wo ihm weitere Serviceleistungen und Teile verkauft werden könnten. Stefan Bratzel, Automobilexperte von der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch-Gladbach, glaubt: So etwas ist höchstens für den Händler ein angenehmer Nebeneffekt. Einem Rückruf gehe stets ein Qualitätsmangel voraus. Rückrufe seien schließlich nur die Spitze des Eisbergs, wenn sich der Qualitätsmangel nicht mehr geheim halten lasse, sagte er zu MOTOR-TALK. Die meisten Probleme, so Bratzel, lösen die Hersteller in „stillen Rückrufen“, zum Beispiel bei der Inspektion. VW grenzt freiwillige „Service-Aktionen “ schon sprachlich von „echten“ Rückrufen ab. Bratzel ist sicher: Um sie für Marketingzwecke zu missbrauchen, seien Rückrufe zu teuer und der damit verbundene Imageschaden zu groß. Quelle: General Motors KBA-Sprecher Andreas Immen ist ebenfalls überzeugt: „Es gibt genug andere Instrumente, um Kunden anzusprechen. Rückrufe gehören nicht dazu“. Schließlich bewerte das KBA jedes gemeldete Problem unabhängig. Wegen Kleinigkeiten, so Immen, gebe die Behörde keine Halterdaten heraus. Auch GM-Sprecher Alan Adler stellt gegenüber MOTOR-TALK klar: Bei Rückrufen gehe es immer um die Fahrzeugsicherheit. „Wir rufen keine Autos zurück, um ein Geschäft zu machen“. Adler räumt aber ein: „Wenn sich ein Kunde beim Rückruf gut behandelt fühlt, kann das seine Wahrnehmung einer Marke oder eines Händlers positiv beeinflussen.“ Fürsorge für den Kunden?Der Eindruck großer „Fürsorge für den Kunden“, den Hersteller mit ihren Rückrufen gern transportiert sehen, sieht Stefan Bratzel eher als nachträgliche Schadensbegrenzung: „Dann ist das Kind schon in den Brunnen gefallen, der Imageschaden ist da und soll minimiert werden“. Beispiel GM: Der US-Konzern habe jahrelang nichts getan, und erst nach Medienberichten reagiert. GM-Sprecher Alan Adler erklärt: GM habe seit Mary Barras Amtsantritt den kompletten Qualitätsprozess verändert und vor allem die Entscheidungszeiträume deutlich reduziert. Finde man nun ein Problem, rufe man "ohne Zögern" zurück. Stefan Bratzel glaubt, dass ein Desaster, wie es GM momentan erlebt, zur Änderung der Unternehmenskultur führen kann. Toyota habe es vorgemacht. Zwar ist heute geklärt, dass große Teile der Vorwürfe gegen Toyota 2010 nicht zutrafen. Bratzel glaubt trotzdem: „Ein bisschen war schon dran, sonst hätten sie nicht Milliarden an Entschädigungen bezahlt“. Vor allem aber existiere in den USA ein hohes Klagerisiko bei Verbraucherschutz-Themen. Deshalb meldeten Hersteller lieber ein Problem zu viel als eines zu wenig. Null Toleranz bei ToyotaBeugen sich die Hersteller in den USA also öffentlichem Druck? Alan Adler bestreitet das: „Wir untersuchen alle Zündschlösser, von den 1990er-Jahren bis ins Modelljahr 2016. Niemand hat uns dazu gezwungen. Es war einfach die richtige Entscheidung“. Toyota verfolgt (und bewirbt) heute bei Fehlern eine Null-Toleranz-Politik: „Wenn wir einen Fehler nach sechs oder sieben Jahren entdecken, rufen wir das Auto zurück“, sagte Toyotas Europa-Chef Didier Leroy im Interview mit „auto, motor und sport“ und ergänzt: "Andere machen vielleicht keine Fehler". Diese Politik hat Toyota nicht geschadet, weder beim Image noch beim Absatz. Auch GM verkauft seit dem Rückruf nicht weniger, sondern mehr Autos. Werden Autos unsicherer?Quelle: General Motors Autos, da sind sich die Experten einig, werden nicht unsicherer. Das beweise schon die sinkende Zahl der Verkehrstoten bei zunehmender Verkehrsdichte. Autos werden aber komplexer und technisch ähnlicher – und damit steigt ihre Fehleranfälligkeit. Je mehr beispielsweise ein Steuergerät für den Airbag können muss, desto größer ist die Möglichkeit, dass etwas davon - unter bestimmten Umständen - nicht funktioniert. „Schuld“ sind dann oft kleinste Bauteile oder Programmierfehler. Die Rückruf-Probleme, sagt Stefan Bratzel, sind hausgemacht: Um Kosten zu sparen, machen sich Hersteller abhängig von Zulieferern. Ein paar Cent für einen Schalter im Einkauf gespart, das bedeutet auch: Der Zulieferer verwendet eventuell ein weniger robustes Teil oder schaut bei der Kontrolle weniger genau hin. Die Gleichteil- und Plattformstrategie trägt ebenfalls dazu bei, dass sich Probleme auf viele Baureihen erstrecken. Dabei soll die eigentlich ebenfalls Kosten sparen. „Das ist das Damoklesschwert dieser Strategie“, sagt Professor Bratzel. Er glaubt deshalb: Die Hersteller werden immer verwundbarer, obwohl die Autos technisch gesehen sicherer werden. Trotz dieser Trends: Die aktuelle Rückrufwelle basiert im Wesentlichen auf GMs intensiver Fehlersuche auch bei älteren Modellen. „Jetzt sucht man gründlich nach Leichen im Keller, und findet einiges“, sagt Stefan Bratzel. Wie kommt es zum Rückruf?KBA und NHTSA werten Hinweise aus, die neben den Pflichtmeldungen der Industrie auch aus Medien und von Autofahrern kommen. In Flensburg gehen jährlich etwa 350 bis 500 Hinweise ein. Die Behörden sammeln die Hinweise und werten sie aus, prüfen auf Eigeninitiative oder auf Antrag der Hersteller. Das deutsche System funktioniert so: Will der Hersteller freiwillig zurückrufen, muss er das dem KBA mitteilen. Dann kann er auf die amtlichen Fahrzeughalterdaten zurückgreifen, wenn das KBA den Mangel als sicherheitsrelevant einstuft. Das KBA übernimmt, anders als die NHTSA, auf Wunsch auch das Anschreiben an die Halter. Natürlich gegen Gebühr. Anders sieht es bei so genannten „ernsten Gefährdungen“ aus: Hier muss der Hersteller die Halteranschriften des KBA verwenden. Das KBA prüft jede Meldung: Liegt ein Sicherheitsproblem vor und sind die Schritte des Herstellers ausreichend? Wenn nein, kann das KBA den Rückruf überwachen. 2013 tat es das immerhin bei 105 von 180 Rückrufen. Wie läuft ein Rückruf ab?Ein überwachter Rückruf darf in Deutschland maximal 18 Monate dauern. Durchschnittlich wünscht das KBA die Abwicklung innerhalb eines Jahres. In dieser Zeit muss der Hersteller alle in Deutschland betroffenen Fahrzeuge ermitteln und die weltweite Zahl nicht nachgebesserter Fahrzeuge melden. Der Hersteller muss die Halter anschreiben und in die Werkstatt bitten. Wer sein Auto inzwischen verkauft hat, sollte dem Hersteller den Namen und die Anschrift des Käufers nennen. Im Brief muss der Hersteller den Mangel konkret beschreiben und Angaben zum Zeitaufwand der Reparatur machen, außerdem darauf hinweisen, dass die Reparatur kostenlos ist. Autofahrer sind zwar gut beraten, einem Rückruf zu folgen. Eine Pflicht besteht aber im Endeffekt nicht. 282.201 Halter wurden 2013 mehrmals aufgefordert, ihr Auto in die Werkstatt zu bringen. Es ist trotzdem riskant für Autofahrer, einen Rückruf zu ignorieren: Das KBA kann, wenn es den Mangel als ernst genug einschätzt, eine „Betriebsuntersagung“ aussprechen. Die Zulassungsbehörde legt dann das Auto still. Das passierte 2013 immerhin 9.051–mal. |