Wangerooge – Heute ist ein Tag wie keiner. Radlader sind auf Wangerooge unterwegs. Sie schaufeln neuen Sand vors Meer. Dabei sind Autos mit Kraftstoffpumpe auf der Nordseeinsel so willkommen wie ein Spanferkel im Veganer-Club. Aber ein Sturm hat tiefe Furchen hinterlassen – und die Touristen sollen es schön haben.
Im Elektro-Schnellaster auf Wangerooge
Bis zu 80 Kilometer weit fährt der Schnellaster mit einer Akkuladung. Im Alltag sind es mindestens 40 Quelle: MOTOR-TALK
Fast alles bewegt sich auf Wangerooge per Flugzeug, Zug, Schiff oder Fahrrad. Dazwischen surren einige Versorgungstransporter. Elektrisch, quadratisch, ohne Gesicht und Charakter. Ein Paradies für Frischluft-Fans. Und heute für den elektrischen DKW Schnellaster F800-3-E von 1956. Bürgermeister Dirk Lindner lässt ihn „ausnahmsweise“ mal rollen. Schließlich gehört er zur Geschichte von Wangerooge.
Ungefähr vier solcher Auto-Büschen fuhren hier in den 50ern und 60ern, als Lieferwagen und Touristen-Taxi. Bäcker Bolte hatte so einen. Der brachte damit seine Brötchen in die Jugendherberge. Vom Ort Wangerooge über die Straße zum Westen und zurück, 4,5 Kilometer pro Strecke, neun Kilometer pro Tour.
Die Bäckerei gibt es noch, in der Zedeliusstraße 28, gegenüber von Blumen Wünsche. Hier starten wir unsere kurze Reise über Straßen, auf denen man sonst nur radelt.
Restaurierter Oldtimer mit modernen Elementen
Schon deshalb ist der DKW eine Attraktion – ein Auto auf Wangerooge! Einige Einheimische kennen den Schnellaster noch, kommen auf uns zu und fragen uns aus. „Ist der original“, möchte einer wissen. Nicht so richtig, aber irgendwie schon. Audis Oldtimer-Abteilung hat ihn aus zwei Autos zusammenbauen lassen. Die Karosserie stammt aus Essen von RWE, die Elektrik von einem Wangerooger Modell. Der TÜV und Audi hatten außerdem ein paar Sonderwünsche.
Der Schnellaster am Bahnhof Wangerooge: Von hier aus transportierte er oft Kinder in die Jugendherrberge Quelle: MOTOR-TALK
Elektrische Blinker hängen unter der Stoßstange. Die Winker in der B-Säule sind stillgelegt. Alle Hochvoltleitungen sind orange, wie in modernen Elektroautos. Die alten Blei-Säure-Akkus haben die Karosserie zerfressen. Jetzt stecken 800 Kilogramm schwere Blei-Gel-Batterien hinter frisch gedengeltem Blech. „Echte Handwerkskunst“, freut sich Ralf Hornung. Er ist bei Audi Tradition zuständig für Ankauf und Restaurierung von Exponaten. Den DKW hat er in bei Bach & Räppel in Chemnitz aufbauen lassen.
Aus der Lenksäule ragt noch der Handgashebel. Er funktioniert nicht mehr. „Wir wollen das Auto fahren“, sagt Hornung. „Deshalb haben wir ein Gaspedal nachgerüstet.“ Das liegt so nah am Fahrersitz, dass wir mit dem Hacken improvisieren müssen. „Der Sitz ist nicht verstellbar“, schmunzelt Hornung. „Deshalb muss der Fahrer verstellbar sein.“
Nutzfahrzeug mit viel Platz und 5 kW Leistung
Der misst 1,90 Meter und quält sich derweil mit Schuhgröße 47,5, zwei Tonnen Leergewicht und einer Lenkung ohne Servo-Unterstützung. Die Finger rutschen über den glatten Lenkradkranz. Steuern im Stand geht nur mit viel Schmalz im Arm und festem Griff. Dafür erleben wir großartige Entschleunigung. An einem Ort, an dem wir mit 10 bis 25 km/h die Schnellsten sind. Beschleunigungswerte hat DKW nie angegeben, die Höchstgeschwindigkeit des Schnellaster liegt bei 40 km/h. Wundervoll.
Mit dem rechten Hacken am Gas ist die Bremse fast unerreichbar. Der linke Schuh hängt an der Lenksäule, den rechten hebt man mühsam hoch genug. Der DKW verzögert selbstständig, seine neue Elektrik kann rekuperieren. Der Motor wird im Schubmodus zum Generator und bremst den Wagen bis zum Stillstand. 1956 ging das nicht. Hier und heute fließt etwas Strom zurück in den 80-Volt-Akku. Aber nie genug, als dass die nachgerüsteten Instrumente mehr Reichweite melden. 80 Kilometer weit fährt er maximal, „im Alltag mindestens 40“, versichert Hornung. Früher war der Prüfzyklus doch nicht genauer als heute.
Ein großes, dünnes Volant ohne Servo-Hilfe: MOTOR-TALK Redakteur Constantin Bergander am Steuer des Elektro-Schnellaster Quelle: MOTOR-TALK
Einen halben Kilometer hinter dem Inselfriedhof verlassen wir unsere Route und pausieren am Bahnübergang. Von hier aus sieht man den Westturm der Jugendherberge, ein rotes Backsteingebäude, fast 100 Jahre alt und 56,5 Meter hoch. Streng genommen nur ein Nachbau. Der originale „Signal- und Westturm“ wurde zur Weihnachtszeit im Jahr 1914 gesprengt, um feindlichen Schiffen keine Orientierung zu bieten.
Die Frühlingssonne scheint warm auf den DKW und offenbart winzige Fehler im taubenblauen Lack. Die Kanten des Westturmes verwischen in der Reflexion. Kleinigkeiten, winkt Hornung ab. Auf großen Blechen darf es kleine Störungen geben.
Einem Oldtimer verzeiht man vieles. Türen, die nur mit Kraft öffnen und schließen, zum Beispiel. Der DKW war stets Nutzfahrzeug, nie Design-Ikone mit Licht-Signatur oder Alibi für den Flottenverbrauch. Er sollte innerstädtische Lieferungen vereinfachen. Dass er so gut auf eine Nordseeinsel passt, hat bei der Entwicklung niemand vermutet.
Wir beginnen den zweiten Teil unserer Reise. Der 5-kW-Elektromotor stemmt sich kräftig gegen ein einstufiges Kettengetriebe. Außen hört man das kaum, innen klingt es wie ein gerade verzahntes Renngetriebe. Mit steigender Drehzahl surrt es lauter, bei 23 km/h schwingt der Motor mit seiner Eigenfrequenz und beginnt leise zu scheppern. Dämmung gibt es nicht im DKW, nur viel lackiertes Blech.
Etwa fünf Prozent haben überlebt
Ungefähr 100 elektrische Schnellaster hat DKW zwischen 1955 und 1961 gebaut. Hornung weiß von fünf noch existierenden Exemplaren, eine Pritsche und vier Kästen. Deshalb gibt es keinen Markt für sein Auto. Und keinen definierten Wert. „Wir haben viel mehr reingesteckt, als er wert ist“, sagt Hornung. Der Rahmen habe überlebt, aber die Karosserie sei in katastrophalem Zustand gewesen. Hinzu kam ein schlecht reparierter Unfallschaden vorn links.
Unser Trick: Mit dem rechten Hacken am Gas. Das Bremspedal war aber fast unerreichbar Quelle: MOTOR-TALK
Heute glänzt der DKW in originaler RAL-Farbe, mit einem nicht originalen Schriftzug auf der Tür. Konzernverwandtschaft zu VW gab es 1956 noch nicht: Mit dem Bulli hat der Schnellaster nur die Kastenform gemeinsam. Hinter seinem freundlichen Lächeln arbeitet ein fortschrittlicher Frontantrieb, serienmäßig mit zwei bis drei Zylindern, 20 bis 30 PS und Benzin als Kraftstoff. Zu dieser Zeit schraubte VW die Motoren noch ins Heck.
8.000 DM kostete ein Schnellaster 1956, zuzüglich 3.956 DM für die Batterien und Mehrwertsteuer. Stadt- und Elektrowerke bekamen 15 Prozent Rabatt auf den Nettopreis. Für Privatpersonen war das Auto nicht gedacht.
Das einzige Auto auf Wangerooge
Während unserer Fahrt über die Insel könnten wir bequem die ersten Frühlingsblumen pflücken. Viel lieber entdecken wir hübsche Details im und am Auto. Lederbänder fangen die Türen beim Öffnen ein, Kleiderhaken an den Säulen wirken wie zierliches Geschmeide an einem verschwitzten Handwerker. Der Beifahrersitz klappt ein und macht Platz für ein Kinder-Fußballteam im Heck. DKW gab rund fünf Kubikmeter Zuladung an.
Für die Auto Union, aus der später Audi wurde, markiert der Schnellaster einen wichtigen Moment in der eigenen Geschichte: Er war das erste Nachkriegsfahrzeug von DKW und das erste Auto, das im Werk Ingolstadt gebaut wurde. 1962 lief er in Deutschland aus. Wenig später übernahm der VW-Konzern Auto Union und ersetzte den Kasten durch den Bulli.
In Spanien lief die Produktion weiter. Dort entwickelte sich der DKW zum Mercedes MB 100, ein Vorläufer des Vito. Ein unbekannter Teil der DKW-Geschichte. Die meisten Wangerooger erinnern sich dafür an den alten Werbespruch: „Der DKW, das kleine Wunder, fährt Berge rauf, wie andere runter."