Der Mercedes 190 E im Dauertest
Entschleunigung mit Sternchen
Fast ein Jahr hatten wir einen Mercedes 190 E. Ein tolles Auto, das wir mit einigen von Euch teilten. Hier schreibt MOTOR-TALKer Christoph über seine Fahrt durch Berlin.
Berlin - Die MOTOR-TALK-Redaktion durfte einen Mercedes 190 E ein Jahr testen. Damit der Benz auch mal etwas anderes als den Redaktionsalltag erlebt, haben wir die MOTOR-TALKer dazu aufgerufen, sich für einen 10-Tage-Test zu bewerben. Der Testfahrer Christoph fuhr mit dem 190er durch Berlin. Hier ist sein Bericht.
Zum Glück ist der Benz jetzt weg! Nur so kann sich mein Blick auf die mobile Welt wieder normalisieren
und die Verschiebung im Auto-Machtgefüge wieder gerade rücken. Alles begann damit, dass ich den MOTOR-TALK-Dauertester für eine Woche fahren durfte, einen 190 2.0E aus dem Jahr 1988.Nach dem Einsteigen nahm ich den einzigartigen Geruch wahr, den nur ältere Mercedes verströmen. Eine Mischung aus betagten Polstern und einem Schuss Öl. Viele nennen den 190er Baby-Benz - eine Bezeichnung, die ich nicht angemessen finde. Der 190er macht einen völlig erwachsenen Eindruck. Die Türen liegen schwer und solide in der Hand. Und wenn man sie von innen schließt, hört man keine blechernen Geräusche. Ganz anders kenne ich das von meinem Ford Granada.
Plastik mit Zebranoholz-Einlagen
Das Platzangebot im Inneren ist gut, zumindest ausreichend. Zwar sitzt man in einem vergleichsweise kleinen Auto, doch eingeengt fühlt man sich nie. Wie sollte man auch? Es ist eine phantastische Idee, Freiheit pur, einen betagten Benz zu fahren statt einer neumodischen Kiste mit Sternemblem.
Die Sitze mit dem 80er-Jahre-Karomuster wippen bei jeder Bewegung ein klein wenig nach. Wie herrlich ist es, ihnen dabei zuzusehen. Anscheinend werkelt innen noch ein Federkerngestell. Dennoch sitzt man straff genug, um Rücken und Wirbel zu schonen, gerade auf langen Strecken
. Das Cockpit besteht aus Plastik mit klassischen Mercedes-Zebranoholz-Einlagen. Mami, kann ich noch ein Kaugummi haben? So ungefähr fühlt sich die Zeitreise an.Meine Augen wandern vom Fahrersitz aus über das Blech, entlang der Haube. Was ist das? Windschief hängt der Wimpel dieser Marke in der Fassung, der Mercedes-Stern! Unfassbar. Welcher Banause fuhr zuletzt mit diesem Kleinod? War es ein Blinder? Beim Mercedes-Fahren auf einen schiefen Stern zu schauen irritiert mich genauso wie der Blick auf eine offene Schranktüre, während ich Formel-1 im Fernsehen gucke.
Das Getriebe ist leicht knochig und rein mechanisch
Nach dem Anlassen des Motors lausche ich der Frage in meinem Kopf: Läuft das Stück tatsächlich schon? Der Drehzahlmesser sagt "Ja", die eigene Akustikzentrale "Nein". Wo mein Granada mit seinem heiseren V6-Grollen unmissverständlich kundtut, dass er Benzin verbrennt, säuft der Mercedes zurückhaltend seine Oktan-Suppe.
Und wie sich das Auto fährt. Viel eleganter als erwartet. Die Gänge rutschen butterweich durch das Schaltungs-H, nur manchmal spüre ich die alte, leichte Knochigkeit. Sie erinnert daran, dass dieses Getriebe rein mechanisch arbeitet. Beim Schalten in den fünften Gang kneift der Benz. Er hat nur vier Gänge. Da klaffen Erwartung und Wirklichkeit auseinander.Was hat die Autoindustrie seit 1988 gemacht?
Erster Gang rein und die Fuhre rollt. Leise und viel leichter als erwartet. Zack, der zweite Gang, zack, der dritte Gang. Wie ein Jahreswagen rollt der Benz durch den Berliner Stadtverkehr. Hin und wieder, wenn ich das betagte Radio mit den knarzenden Boxen vergesse, kein Navi und keinen USB-Port suche, dann spukt die entscheidende Frage in meinem Kopf: Was hat die Automobilindustrie in den vergangenen Jahren getrieben?
Die Hauptaufgabe eines Automobils ist doch die: einen Menschen stress- und problemfrei von A nach B zu bringen. Das erfüllt der 190er nahezu perfekt. Statt Navi liegt der gute alte Shell Atlas auf dem Beifahrersitz. Statt Zwölf-Zonen-Klimaanlage lupfe ich das Sonnendach. Abfahrt!
Nach der ersten Tour parke ich den Benz in der Tiefgarage neben meinen Granada. Dabei neue, wildere Gedanken: “So einen Benz für den Alltag, das wäre doch was. Ist doch viel wendiger in der Stadt als der Granada. Ersatzteile sind viel einfacher zu beschaffen.”Eine Zeitreise in die späten 80er-Jahre
Welche beruhigende Wirkung es haben kann, einen Mercedes durch den Berliner Berufsverkehr zu pilotieren, erfahre ich am Montagmorgen. Per Telefon erfahre ich, dass ich einen Ausflugstermin verpennt habe und die Kinder seit 10 Minuten in der Kita sein müssten. Mein Puls schnellt in den vierstelligen Bereich. In Sekundenbruchteilen reift der Plan, man könne die Kinder mit dem Benz zum Ziel bringen.
Auf Wunsch der Kinder schalte ich das Autoradio ein, öffne das Schiebedach, lege meinen Ellenbogen auf die runtergelassene Scheibe und freue mich des Lebens mit diesem Benz.
Modern und leichtfüßig
Was dabei passierte, kann ich nicht genau erklären. Lag es am Gefühl, Taxi zu fahren? Am Geräusch des soliden Klack-klack des Blinkers? Oder am völlig unaufgeregten Fahrverhalten des Autos?Nach einigen Minuten sind Hektik und Eile vergessen, reisen wir alle tiefentspannt dem Ausflug entgegen. Dass wir viel zu spät kommen werden, war plötzlich egal. Der Wunsch, selbst einen 190er zu besitzen, der wuchs dagegen.
Der Mercedes fährt modern und leichtfüßig. Mein Granada Kombi wirkt dagegen fett und behäbig. Trotzdem werde ich mir keinen Mercedes 190er kaufen. Außer wenn ich irgendwann mal ein vernünftiges, altes, zweites Auto brauche, mit dem ich stressfrei von A nach B komme, dann…
Konnte man beim 190er schon die Fahrer- und Beifahrerseite der Heizung getrennt regeln? Auf dem 6. Bild sieht es danach aus...
Hervorragender Artikel über den Dauertester! 😊
Ich kann dank meines eigenen 190 E 2.0 gut nachempfinden, wie man sich bei einer Fahrt mit so einem Auto fühlt.
Das etwas "Mehr" an Ausstattung (Mittelarmlehne und Automatik hauptsächlich) komplettiert das Mercedes-Feeling noch ein wenig, aber es ist eigentlich in jedem der alten Modelle gut nachvollziehbar.
In einem intakten Zustand fahren die Autos auch heute noch sehr zeitgemäß - allein das Fahrwerk ist bis heute eigentlich nicht wirklich getoppt worden.
Ich hoffe, es wird noch weitere Artikel von Testfahrern zu lesen geben...
@MadMax: Konnte man! 😊
Klar kann man das...
Ich kann das Fahrzeug leider nur äußerlich bewerten, bin nur einmal mit einem 190 2.5 D mitgefahren.
Ich stelle immer wieder fest, obwohl ich kein Mercedes-Fan bin, dass der 190er verdammt jung geblieben ist. Er sieht immer noch modern aus, ähnlich wie der RO80, und ist einfach nur zeitlos.
Was hat die Autoindustrie seit 1988 gemacht? Zumindest für Mercedes würde ich die Frage so beantworten: Mercedes hat sich seit dem weit weg vom klassischen und zeitlosen Design hin zu verschwurbeltem, sickenbehaftetem und kurzlebigem Design entwickelt. Eine aktuelle A-Klasse wird niemals den Nimbus des 190er erreichen.
Ben1972, also der R129, der W140 und auch noch mit Abstrichen der W202 sind sehr unaufgeregt designte Fahrzeuge, die noch heute nicht veraltet wirken und sehr zuverlässig laufen.
Jan, du hast einen W201?
Ja - schaue mal in die Blogs.
Dort befindet sich derzeit eine Ankündigung, dass ich Motor-Talk diesbezüglich mit Informationen versorgen werde. 😉
Ein schöner und auch informativer Bericht über den "Hundertneunziger". Gut gewartet und gepflegt, ist er auch 32 Jahre nach Präsentation ein Auto, das man im Alltag zeitgemäß bewegen kann. Gerade die nach der Modellpflege im Spätsommer 1988 gebauten Exemplare sind sehr angenehme Fahrzeuge.
Nach wie vor--tolles Auto.
😆 muß oder soll er ja auch nicht, im Moment geht es in Richtung junge Käufer...das ist die Zielgruppe und damit war es nur konzequent in eine Richtung Golf zu gehen...die Tuningszene wird sich anhängen und ihren Beitrag leisten.....damit Männerherzen noch höher schlagen..😆
die Zeiten sind gelaufen wo Mercedes Legenden an den Markt bringt, bzw., es werden eben nur ein paar Sportwagen sein, die so was wie glänzende Augen auf lange Zeit erzeugen.
Aber das alles finden wir nicht nur bei Mercedes, sondern bei allen Anbietern......woher sollen denn sonst die Stückzahlen kommen, wenn nicht von vielen Fahrzeugmodellen, wo jeder von uns sein "Individualfahrzeug" findet......die man logisch auf einem Baukasten aufbaut, nur so läßt sich Geld verdienen.
Also nicht jammern...kaufen..was Euch gefällt..die Wirtschaft muß brummen, damit Murks und Rolli..weiterhin aus dem Vollen schöpfen können😆
124er ? Nobel genug.
Bin mir nicht sicher, aber glaube schon. Bei den größeren Mercedes gab es das jedenfalls schon viel früher, der W123 hatte schon 1975 separate Heizungsregler.
Einfach ein tolles Auto. Sparsam, haltbar, komfortabel. Das einzige Manko ist die fehlende Variabilität, dennoch war ich mit dem Auto zehntausende Kilometer auf Urlaubsreisen in über 20 Ländern unterwegs. Erstaunlich, dass 72 PS so viel Spaß machen konnten😊
Wirklich toll geschrieben!
Und es ist in der Tat so, dass einen dieses Auto an eine andere Zeit erinnert.
Da kam es noch nicht auf den CO-2-Wahn an, dass man überall als erstes an der Ampel stehen musste, dass es (fast) egal war wieviel Benzin der Wagen geschluckt hat, dass man überall bei der Entwicklung den Rotstift angreifen lässt, um möglichst billige Materialen teuer zu verkaufen usw...
Es ging ums bequeme Reisen und um ein so lange, wie möglich haltbares Auto zu bauen.
Und es stimmt in der Tat auch so, dass dieses Fahrzeug den Alltag einfach entschleunigt!
Ich glaube mit dem 2,6l Motor hätte man heute noch eine extremst angenehme Langstreckenlimo.