Classic Driving News

Straßen-Meisterei - Baby-Benz auf Speed

verfasst am Mon Dec 06 17:19:07 CET 2010

Die ältere Dame ist etwa Mitte 60, schlank, modisch und elegant gekleidet. Aber nicht deshalb sieht man staunend rüber, als sie im Innenhof eines Hotel-Restaurants in Eltville am Rhein aus ihrem Mercedes 190 E 2.3-16 steigt. Jugendstilhäuser aus der Jahrhundertwende schmücken die Uferpromenade.

Extrovertierter Mercedes für den starken Auftritt

Der Mercedes 190 ist rauchsilber-metallic, was in etwa ihrer Haarfarbe entspricht. Aber es ist kein betulicher 230 CE (W 123), sondern ein kraftstrotzender Mercedes 190 E 2.3-16 (W 201) in vollem serienmäßigen Ornat - mit Front und Heckspoiler, schon ab Werk tiefer gelegt und mit breiter Spur. Ein kurzes Aufleuchten der Rückfahrscheinwerfer verrät die Automatikversion.

"Nein, den gebe ich nicht her", wehrt sie den neugierigen Frager höflich, aber bestimmt ab. "Den Mercedes 190 E 2.3-16 fahre ich jetzt schon seit über 20 Jahren, ich habe ihn damals neu gekauft. Er war so teuer wie die S-Klasse von meinem Mann, aber ich wollte schwarze Ledersitze und Automatik. Jetzt hat er knapp 190.000 Kilometer auf dem Tacho. Ich lasse alles regelmäßig machen und habe immer noch viel Freude an ihm, er ist etwas Besonderes."

Nur noch  2.000 Exemplare des 16-Ventiler-W201 listet das KBA

Heute hat die Folge-Generation der 30- bis 40-jährigen die überlebenden Sechzehnventiler vom Baby-Benz fest im Griff. Knapp 2.000 Mercedes 190 E 16-Ventiler sind in Deutschland vom Kraftfahrt-Bundesamt noch offiziell gelistet. Technikbegeisterte und fahrfreudige Auto-Enthusiasten wie Christoph Rieger und Erik Deier halten die Fahne dieser faszinierenden viertürigen Sportwagen hoch, für die es weder direkte Vorgänger noch Nachfolger gab.

Beide gehören zum Vorstand des inzwischen von Mercedes-Benz offiziell anerkannten Mercedes W 201 16 V Clubs. Gern präsentieren sie ihre Mercedes 190 E 16V. Christoph mit seinem rauchsilbernen Mercedes 190 E 2.3-16, den er liebevoll in Bestzustand brachte. Erik sitzt am Steuer des voll ausgestatteten Mercedes 190 E 2.5-16 in Blauschwarz. Der Wagen hat mit dem ersten Motor bereits weit über 300.000 Kilometer abgespult.

So viel zum Vorurteil, die Mercedes 190 E -Sechzehnventiler mit dem Cosworth-Kopf seien nicht standfest. Diese wahre Anekdote von der älteren Dame zeigt die vielschichtige Klientel dieses wohl ungewöhnlichsten und spektakulärsten Mercedes der Achtziger. Eigentlich passte das mutige und extravagante Homologations-Modell Mercedes 190 E 190 E 2.3-16 gar nicht ins Programm der seriösen Daimler-Benz AG.

Ab etwa 10.000 Euro gibt's gute 190 E-16-Ventiler

Nur 5.000 Exemplare des Mercedes 190 E 2.3-16 sollten zunächst gebaut werden. Anfangs schienen Verkäufer und Kunden überfordert, dieses exklusive Sportgerät zu begreifen. Erstaunlich viele Damen um die 40 haben ihn als lederbezogene Luxusausgabe des kargen 190er missverstanden, pardon interpretiert. Dann rief er wiederum engagierte Sportfahrer auf den Plan, denen ein 280 E zu schwerfällig und zu langweilig war. BMW-Abtrünnige fanden im Mercedes 190 E 2.3-16 den Biss und die Fahrfreude des ersten giftigen 323i wieder. Nur die GTI-Goldkettchenfraktion konnte ihn sich erst Mitte der neunziger Jahre leisten. Trotz seines Nonkonformismus verkaufte sich der 2,3-Liter in vier Jahren fast 20.000 Mal.

Viel schneller verblühte der späte Mercedes 190 E 2.5-16, er brachte es nur auf 6.700 Exemplare, die kompromisslosen Evolution-Modelle miteingerechnet. Schon 1990 kam dieses modische Achtziger-Jahre-Auto spürbar aus der Mode. Selbst zwei zusätzliche Farben konnten dies nicht verhindern: Ein schrilles Almandinrot-Metallic aus dem Kosmetikstudio oder ein schlichtes Silbergrau ergänzten beim Mercedes 190 E 2.5-16 die Palette. Manche Firmenchefs fuhren den Edel-190er als Zweitwagen, und Mercedes-Freaks stellten ihn sich schon damals als vermeintlich renditeträchtiges Sammlerstück für Schönwetterfahrten in die Doppelgarage. Heute ist ein Mercedes 190 E 16-Ventiler zwar selten, aber nicht wirklich teuer. Selbst gute Exemplare kosten um die 10.000 Euro.

In den 80ern: Nonplusultra der Unteren Mittelklasse

Sein Charakter trägt reichlich widersprüchliche Züge, die eine Menge Spannung erzeugen: Der Mercedes 190 E 2.3-16 war so aufreizend, aber keineswegs billig gekleidet wie ein Disco-Girl mit kurzem Lederrock und Westernstiefeln von Prada, trug aber als Make-up ausgerechnet die Rentnerfarbe Rauchsilber-Metallic. Okay, Blauschwarz gab es noch als Alternative, das rockt mehr, passt besser zur Spoilergarnitur. Als wahre Sportskanone bietet der Mercedes 190 E 2.3-16 großformatige 7x15-Zoll-Räder, ABS, ein Lamellen-Differenzial mit 35 Prozent Sperrwirkung und die aufwendige hydropneumatische Niveauregulierung hinten auf.

Auf Wunsch gab es die ab 1987 im Mercedes 190 E 2.3-16 auch vorn. Beste Zutaten also für gute Traktion und ein neutrales Fahrverhalten mit sehr weit gestecktem Grenzbereich. auto motor und sport schrieb in Heft 18/1984 im ersten Test: "Selbst Allradantrieb macht nicht wett, was an Fahrverhalten und Fahrsicherheit in diesem konventionell getriebenen Auto steckt." Nicht zuletzt machen all diese technischen Leckerbissen den Mercedes 190 E 2.3-16 in der Preisliste so teuer wie zwei gewöhnliche 190 Vergaser. Fahraktiver Salonsportler mit fremdem Kopf

Zum fahraktiven Charakter des Salonsportlers Mercedes 190 E 2.3-16 passt vorzüglich das eng gestufte Fünfgang-Sportgetriebe von Getrag. Erst bei einer Schaltdrehzahl von 7.100/min regelt der Begrenzer ab, ein Beweis für das enorme Drehvermögen des Großkolben-Vierzylinders. Die Mercedes-typische samtweiche Viergang-Automatik nutzt dieses Potenzial nicht annähernd. Es gab sie auch noch beim Nachfolger 190 E 2.5-16 bis zum Produktionsende 1993, jedoch wurde diese Option selten gewünscht.

Ausgerechnet Daimler-Benz, die Mutter aller Autohersteller, die den Ehrgeiz hat, möglichst alles selbst zu konstruieren, bezieht den aufwendig gegossenen und akribisch fein bearbeiteten Zylinderkopf für die beiden Sechzehnventiler vom britischen Spezialisten Cosworth. Als Block dient der bewährte M 102 vom 230 E, der Bohrung und Hub vorgibt. Zwei obenliegende Nockenwellen betätigen die Ventile direkt über Tassenstößel. Qualitätsprobleme verzögerten prompt den Serienanlauf um ein knappes Jahr. Später wird sich herausstellen, dass die Einfachkette selbst für den Serien-230 mit 136 PS zu schwach dimensioniert ist. Der Mercedes 190 E 2.5-16 bekam deshalb eine standfeste Duplexkette spendiert Vorgestellt wurde der Mercedes 190 E 2.3-16 schon auf der IAA 1983.

Serienanlauf war erst im September 1984. Sein spektakuläres Sportdebüt gab der Sechzehnventiler, der ursprünglich als seriennahes Rallye-Auto der Gruppe B die schwerfälligen Fünf-Liter-SLC und 280 CE ablösen sollte, im August 1983 auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke in Nardo. Drei 220 PS starke Mercedes 190 E 2.3-16 fuhren dort unter der Regie von Mercedes-Rallye-Guru Erich Waxenberger drei neue Langstrecken-Weltrekorde mit einem Schnitt von 248 km/h heraus. Später, im Mai 1984, machte er beim Race of the Champions anlässlich der Eröffnung des neuen Nürburgrings Furore.

Ayrton Senna und der Baby-Benz

Zwanzig rauchsilberne Vorserien-Sechzehnventiler kreisten im Regen auf dem frischen Asphalt der Südschleife. Formel 1-Piloten aus fünf Jahrzehnten lieferten sich ein heißes Gefecht. Ein brasilianischer Nachwuchsfahrer namens Ayrton Senna da Silva gewann auf seinem Mercedes 190 E 2.3-16. Viele sparen sich die spröde wie eine Formel klingende Typenbezeichnung und sprechen seitdem ganz einfach vom Senna-Auto, wenn sie den teuersten und sportlichsten Mercedes 190 meinen.

Wir treffen Christoph und Erik am Lämmerbuckel auf der Schwäbischen Alb, es ist einer der letzten warmen Tage im Herbst. Neugieriges Probesitzen in Christophs rauchsilbernem 84er Mercedes 190 E 2.3-16. Die Sportsitze mit den stark betonten Seitenwangen aus Leder halten einen fest umklammert. Man fühlt sich hinter dem Lederlenkrad auf Anhieb zu Hause, wie in jedem Mercedes.

Innenraum überzeugt durch funktionalen Luxus

Die komplett ausstaffierte Mittelkonsole des Mercedes 190 E 2.3-16, angereichert mit Ölthermometer, Amperemeter und dieser verspielten LCD-Stoppuhr, beherbergt ein simples Becker Avus Cassette. Statt sportlicher Askese wie im BMW M3 herrscht gediegener, aber funktionaler Luxus. Mehr noch bei Eriks Mercedes 190 E 2.5-16 von 1989, dessen schwarze Voll-Leder-Ausstattung noch appetitlicher wirkt. Kein Schalter bleibt blind, keine Fläche nackt bei der Menge an Sonderausstattungen, die in das einst über 100.000 Mark teure Auto eingeflossen sind. Das Separée im Fond ist im Mercedes 190 E 16-Ventiler streng zweigeteilt, Mittelarmlehne und hohe Sitzwangen machen die Vierventiler auch zu Viersitzern. 

Das Schöne an den beiden Mercedes 190 E 16V ist ihre Zwanglosigkeit. Man muss hinter dem feinen Lederlenkrad nicht rasen, der bereits untenherum satt und kernig klingende Vierzylinder dreht bereits ab 1.000/min ruckfrei und kraftvoll hoch. Ein sattes Drehmoment von über 200 Newtonmeter steht schon ab 3.200 Touren zur Verfügung. Der Chauffeur kann schaltfaul bummeln oder im Ernstfall die Spaßbremse Automatik wandlern lassen, ohne Frust zu spüren.

Zu dieser gelassenen Art zügigen Fahrens passt das bei aller Sportlichkeit immer noch komfortabel abgestimmte Fahrwerk der Mercedes 190 E 16-Ventiler, die deshalb auch als schnelle Reisewagen durch gehen. Und wie alle hoch drehenden Sportmotoren sind sie auch sparsam. Nur leise sind sie nicht, das Drehzahlniveau ist hoch, aber der helle, sägende, ja fast kreischende Klang inspiriert. Natürlich macht es mit beiden Spaß, die hohen Reserven zu nutzen, oberhalb von 4.500/min gibt sich der DOHC-Motor entfesselt.

Das passt: Exzellentes Fahrwerk und druckvoller Motor

Wunderbar linear fühlt sich die Kraftentfaltung der Mercedes 190 E 16-Ventiler an, vehement stürmt die Nadel des Drehzahlmessers vorwärts. Wer bei 6.000 Touren schaltet, hat noch Reserven, schont den Motor und kommt mächtig voran. Das ungewohnte Schaltschema des erstaunlich exakt agierenden Sportgetriebes erlaubt auf engen Landstraßen stets freudvolles Pendeln in einer Ebene zwischen dem zweiten und dem dritten Gang. Kraftvolles Herausbeschleunigen auf dem Gipfel der Drehmomentkurve macht dabei wirklich Laune.

Das exzellente Fahrwerk der Mercedes 190 E 16V tut sein Übriges, um großen Fahrspaß aufkommen zu lassen. Die Wagen liegen straff und meistern schnell gefahrene Kurven praktisch ohne Seitenneigung. Ist etwa der viel preiswertere Mercedes 190 E 2.6 eine Alternative zum 2.3-16? Der Sechszylinder ist im Alltagsbetrieb nicht viel schwächer, gibt sich jedoch deutlich kultivierter. Aber es fehlt ihm die besondere Note - und man vermisst die stilistische und technische Extravaganz. Nur die Mercedes 190 E 16-Ventiler verkörpern so brillant und authentisch den modischen Sex- Appeal der achtziger Jahre.

 

Quelle: Motor Klassik