Motorsphere
Zulassungszahlen 2010: das Sterben in Segmenten
Statistische Daten sind wie die Bibel: Man kann praktisch alles reininterpretieren. Heute reininterpretiere ich die Motorrad-Neuzulassungszahlen von 2010.
Beim Test der Aprilia Dorsoduro 1200 habe ich an der Bar spekuliert, welche Trends es gerade gibt. Mein „vages Journalistengefühl“ hat gesagt, dass es einen realen Trend zu Tallroundern gibt. Was jedoch Wenige wissen: Mein vages Journalistengefühl ist eine Superkraft, wie Hellsehen. Eigentlich könnte ich mir jegliche Recherche sparen, denn die Daten stützen mich ja doch. Daten diesmal: die Neuzulassungen des vergangenen Jahres 2010, die der Industrieverband Motorrad traditionell zu dieser Zeit aufs Maikrelay schickt (siehe Download-Liste am Artikelende).
Darin zeigt sich der Trend zu Tallroundern sehr deutlich, genauso wie mein geliebtes Segment der klassischen Sporttourer so tot aussieht wie der Kommunismus. Die GS verkauft wie immer am meisten (5674 Stück), und sie ist ein halber Tallrounder. Weiter unten steht die BMW F 650 GS (1471 Stück), das ist ein voller Tallrounder. Gleich darunter die BMW F 800 GS (1468 Stück), auch ein Tallrounder, sagen wir: etwa zur Hälfte. Dann kommen mit deutlich geringeren Zahlen die Suzuki Frau Strom 650 (870 Stück), die Ducati Multistrada 1200 (729 Stück), die Kawasaki Versys (694 Stück) und die KTM 990 Supermoto (R&T zusammen 636 Stück). Die Kwack ist ein super Motorrad, das relativ wenige kaufen, weil wenige verstehen, was sie ist. Die Frau Strom ist ein Urgestein und die Multistrada hätte wahrscheinlich auch mehr verkauft, wenn Ducati mehr an den Start gebracht hätte. Es gab meinem vagen Journalistengefühl nach eher Leute, die darauf gewartet haben als Leute, die sie schnell wieder loswerden wollten. Die KTM SM-T wird 2011 mehr Käufer im Tourenpublikum finden, weil die sie dann mit ABS kaufen können.
Demgegenüber stehen in den Top 50 nur noch zwei Sporttourer: Die BMW K 1300 S (878 Stück) und die Honda VFR 1200 (816 Stück). Die Ikonen von früher, die ZZRs und Hayabusas, die sind heute nicht mehr darunter. Die geistige Nachfolge der Honda Blackbird immerhin tritt die VFR 1200 an — wie die Versys ein super Motorrad, das wenige kaufen, weil wenige verstehen, was sie ist. Oder es ist doch so, dass die klassischen Sporttourertugenden einfach nicht mehr viel wert sind in einer Zeit, in der die Leute per Anhänger am Wohnmobil in die Alpen und dort immer weniger Kilometer pro Jahr fahren. Ich verweise hierzu auch auf unsere (Guido, Timo, ich) Autoreisezuggeschichte in MO. Zu den Zulassungszahlen noch eines: Honda und BMW lassen tendenziell viele Maschinen neu zu, die dann bei den Händlern stehen. Die sind damit noch lange nicht verkauft.
Genauso schwach wie die Sporttourer sieht das Segment der 600er-Supersportler aus. Die großartige Kawasaki ZX-6R Ninja liegt mit 484 Neuzulassungen gerade noch auf Rang 48. Es liegt gar nicht an den Motoren, denn 600er-Reihenvierzylinder in Brot-und-Butter-Angeboten wie der Yamaha XJ-6 gehen gut (mit 2.141 Stück auf Platz 3). Offenbar schätzt die Kundschaft den erfrischenden Kampf im fünfstellenden Drehzahlbereich weniger als die Allmacht eines 1000er-Motors, der die Fehler auf den Geraden bügelt — und keiner bügelt einfacher als die BMW S 1000 RR (mit 2.049 Stück auf Platz 6).
Das bringt mich auch endlich weg von diesem Jammerpfad durchs Tal der Tränen. Gute, zeitgerechte Angebote, die Kunden verstehen können, verkaufen sich auch weiterhin gut, obwohl die Neuzulassungen insgesamt gegenüber 2009 um 7 % zurückgingen. Ducati hat in letzter Zeit gute Arbeit gemacht, entsprechend glänzend stehen sie da (nach 19 % Zuwachs im 2009 dieses Mal wieder über 17 %). BMW hat sich den Arsch aufgerissen für das Superbike und sich um eine ansprechende Modellpalette bemüht, deshalb stehen sie mittlerweile bei über 22 % Marktanteil da. Die Zulassungszahlen stiegen gegenüber 2009 um über 12 %.
Dagegen Suzuki 2010: War da was? Irgendwas? Kann mich an nix erinnern. Suzuki hat 2010 über 24 % verloren. Aua. Yamaha verliert seit Jahren gern zweistellig (dieses Mal knapp 12 %), Kawa hat fast 15 % verloren, trotz der gut gehenden Z-Modelle. 2011 sieht es bei Grün und Blau aber gut aus: Beide erneuern Supersport-Modelle (z. B. Zehner mit 200 PS, neue Gixxer 750), neue Touring-Z bei Kawa, optisch nette neue 750er Naked bei Suzuki. Yamaha verharrt 2011 in Duldungsstarre, was nach meinem vagen Journalistengefühl zu einer Fortsetzung ihres Verlust-Streaks führen wird. Dabei hätten sie es am einfachsten, weil sie Designer beschäftigen, die weltweit Zuspruch finden (siehe die R6 von 2006). Suzuki hingegen hat ein paar Designer, die Suzuki hassen und Abscheulichkeiten wie die GSX 750 F „Pavianarsch“, die CSD 650 „Gladius“ oder das Heck der B-„stoned“-King verbrechen. Suzuki muss deshalb neue Motorräder bauen. Bei Yamaha würde es eine neue Verkleidung tun. Alle japanischen Hersteller kämpfen mit dem Yen-Kurs, der die Preise der Maschinen in Europa hochtreibt.
Weitere Argumente zur Beweisführung: KTM und Harley stabil, Triumph auch einigermaßen (minus gut 4 %). Alles Hersteller mit stimmigen Modellpaletten, die ihr entsprechendes Zielpublikum unmissverständlich ansprechen — seien es nun die H-D-Wochenendrockers oder die KTM-Taliban. Aprilia hingegen verliert fast 20 % und ist mit keinem Modell in den Top 50 vertreten. Sie haben keine am Markt erfolgreichen Modelle. Sie haben stattdessen Millionengräber wie die Aprilia RSV4. Diese wunderbare Maschine beweist wie keine zweite, dass die Leute gar keine wirklich „emotionalen Motorräder“, wie sie es nennen, wollen; denn davon hat Aprilia genug. Sie wollen etwas, das sie — okay — ein bisschen liebhaben können, das aber zuerst mal für sie gut funktioniert. Und in der Lebenswelt des 2011er-Kradisten gut funktionierende Motorräder hat Aprilia halt nicht: mürrische Händler, geringe Tankreichweiten, unzuverlässige Technik. Ausführlich hab ich das bei italobikes.de breitgetreiten.
Man hätte es ja nicht so gedacht, aber 2011 bringt lauter tolle Modelle und aktuell außerdem die Hoffnung auf einen Sommer, der diesmal länger als drei Wochen dauert. Lasst uns maximal viel fahren, bevor hirnrissige EU-Verordnungen für, sagen wir mal vorsichtig: weniger tolle Modelle sorgen.
Hier die Originallisten des IVM:
Neuzulassungen 2010: die Top 50
Marktanteile 2010 nach Herstellern
Quelle: Mojomag
Hallo,
hast Du mal einen Link zu deiner Ausführung zu aprilia? Ich dachte immer, die Dorsoduro 750 wäre ein Erfolg? 😕
Danke für den Artikel! 😊
Ciao,
Eric
Ich hab ja im Bikertreff schon vor Wochen einen Thread zu den Rückgängen im letzten Jahr gemacht.
Wenn mans mal genauer betrachtet, gibt es ein Dutzend Modelle, die sich halbwegs verkaufen und einen Riesenhaufen nahezu unverkäuflichen Rest. Woran es liegen könnte, haben wir ja schon ausführlich hier diskutiert.
In meinem Motorrad-Exoten-Blog hab ich auch schon öfters auf einen "Trend" in den USA hingewiesen, wo es für wirklich kleines Geld interessante Motorräder gibt. Abseits von
teutonischer Perfektion, Can-Bussen und Katalysatoren.
Vieleicht würde auch hier ein "Dacia-Motorrad" den Markt wiederbeleben, wie es Dacia mit dem Angebot preiswerter PKWs gemacht hat. Ich wüsste nur nicht, wer eins bauen sollte. Der Versuch von Jawa mit alter F650-Technik ist zumindest ziemlich in die Hose gegangen. Hyosung vieleicht, wenn sie sich einen bekannten Markennamen kaufen. Hyosung klingt einfach kagge. 😉
Die 600er Supersportler werden mit der neuen Stufenführerscheinregelung sterben. Für Anfänger dann verboten, kauft doch so gut wie niemand so eine Drehorgel.
Hä? Wie meinst Du? Verkaufszahlen der 750er? Die verkauft sich auf jeden Fall nicht so, dass sie in den Top 50 ist, das heißt: Sie verkauft irgendwo unter 400 Einheiten pro Jahr. Damit kann man so eine Entwicklung nicht rückfinanzieren, und Aprilia hat nur solche Rohrkrepierer. Was schade ist, weil alles wunderbare Motorräder sind. Vielleicht wird die 1200er was. Drück die Daumen.
liebe aprilia fangemeinde,
aprilia erinnert mich aktuell stark an die modellpolitik der italienische automarke lancia.
...mit jedem jahr extravagante, emotinonale und unausgereifte fahrzeuge bauen (...gerne auch diva's genannt). aber dies 100% am aktuellen käufermarkt vorbei.
und das was die käufer wollen, wird nicht mehr angeboten/eingestellt.
das ende vom lied (bei lancia): nun sollen brotkasten artige chrylser mit ami technik unter dem label lancia angeboten werden. ob es dafür einen massenkäufer markt gibt?
ich drück auf jedenfall dem label aprilia die daumen, dass es nicht demnächst china-kracher unter dem namen aprilia angeboten werde.
so long.
viele grüße
sommer57
Bei Motorrädern ist es eben nicht unbedingt wie bei Autos. Wer ein schönes Stück hat, will es auch viele Jahre behalten, weil die neuen Modelle vielleicht einfach zu teuer sind oder ganz einfach nicht ansprechend.
Die Einführung der neuen Führerscheinklasse wird einen Vorteil mit sich bringen, sie wird den Markt zwischen 125 und 600 cm³ neu beleben und das ist eben das, was viele Kunden gerade wollen. Auch ich könnte mir so ne kleine Duke 350 auf Basis der 125'er sehr gut vorstellen und das wäre auch mein persönlicher Favorit zur Zeit. Klein, wendig, wieselflink und günstig. Nicht jeder will diese Dickschiffe fahren oder kann sie sich einfach nicht leisten. Stattdessen bietet der Gebrauchtmarkt bei Motorrädern wirklich schöne Exemplare, für die sich die Kundschaft eben mehr interessiert. Und selbst mit einem Motorrad aus den 80'er Jahren kann man heut noch viel Fahrspaß haben, zumindest so lange, bis es irgendwann die Feinstaubplakette für Motorräder gibt.
Meine Meinung dazu: Ich kaufe mir ein Motorrad, wenn es mal wieder eins gibt, das mich zu 100% anspricht.
Neu kaufen ist beim derzeitigem Markt eigentlich Geldverschwedung.
Es gibt zehntausende fast perfekter Gebrauchtmotorräder mit kaum Laufleistung aus Erstbesitz, weil die typischen MidLife-Crisis Neukäufer zwar viel Geld, aber keine Zeit und evtl. eine nörgelnde, Sicherheitsbedachte Frau haben.
Es werden ingesamt weniger Motorradfahrer, die jeweils mehr Bikes pro Fahrer besitzen. Ist zumindestens mein Eindruck (statstisch nicht belegbar). Das bedeutet einen Überschuß an Gebrauchtbikes!
Beispiel:
Ich habe meine damals nur 1 Jahr alte Aprilia Falco SL1000 mit 2400km auf der Uhr ZUR HÄLFTE des Listenpreises geschossen! Mit noch gültiger Werksgarantie und Allem Zubehör, der sonst seht teuer gewesen wäre! 😊
Da wäre ich doch schön blöd, mir für das Doppelte eine Neue vom Händler zu holen... 😉
In anderen Segmenten ist es noch krasser. 10-20 Jährigen Japaner bekommt man quasi hinterhergeworfen, auch sehr gepflegte Exemplare.
z.T. Dreistellige Eurobeträge für Motorräder aus Zweitbesitz in Top Zustand. Nicht der neueste Schrei, manchmal etwas aus der Mode, aber durchaus Spaßtauglich!
Ein Kumpel von mir hat über ein halbes Dutzend etwas älterer Japanischer Kultbikes aufgekauft, für Beträge bei denen den Vorbesitzern das Heulen gekommen sein muß - z.B. zwei Suzuki Katanas (750 & 550), zwei alte Suzuki VX800, Yammy FZR 1000, Yammy XJ1200. Der ganze Fuhrpark war billiger als eine neue Aprilia RS 125, oder Suzuki Gladius...
Die bekommt man quasi geschenkt!
Dieser Trend zu Gebrauchbike-Verramschung stützt natürlich BMW Neuauslieferungen, denn diese Maschinen halten tendenziell Ihrer Wert länger, und haben den Ruf einer längeren Lebensdauer.
Außerdem werden Biker ALT - richtig alt, ich denke Wiedereinsteiger dürften inzwischen eine weit größere Nachrückergruppe sein als Führerscheinneulinge - und bei denen kann BMW punkten... 😉