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Tue Jul 13 20:28:13 CEST 2010    |    der_Derk    |    Kommentare (17)    |   Stichworte: Bodenfreiheit, Böschungswinkel, Geländewagen, Lexikon, Rampenwinkel, Verschränkung

Hallo liebe Mitleser,

 

nachdem ich mit der Freilaufnabe den Anfang gemacht habe, möchte ich gleich den zweiten Grundlagen-Artikel zur Geländewagentechnik hinterher schieben. Diesmal geht es um die typischen Angaben aus Katalogen, Testberichten und ähnlichen Quellen, mit denen im Forum meistens in einer Souveränität umher geworfen wird, die dem Einzelfall leider nie gerecht wird. Für die meisten Fahrer, die bereits einen Offroader ihr Eigen nennen, werden sich vermutlich keine neuen Erkenntnisse auftun - wenn's zu langweilig wird, bitte einfach weiterblättern... ;)

 

 

Das erste B: Die Bodenfreiheit

 

bodenfreiheitbodenfreiheit

Der Begriff ist zunächst mal selbsterklärend - das ist halt der Abstand vom Fahrzeug-Unterboden zur Straße. Der Teufel steckt hier im Detail - denn was habe ich von diesem Wert, den der Hersteller gerne auch mit Nachkommastelle angibt, in der Praxis? Da verhält es sich leider ähnlich wie mit der Verbrauchsangabe: Man hat davon erschreckend wenig, es genügt bestenfalls für einen groben Vergleich. Der Weg in die Wertlosigkeit dieser Angabe beginnt mit der Frage, wo gemessen wurde. Üblich ist hier "irgendwo in der Fahrzeugmitte", auch wenn meistens Teile der Radaufhängung in unmittelbarer Nähe des Rades tiefer reichen. Weiterhin spielt die Art des Fahrwerks eine bedeutsame Rolle, konkret der Unterschied zwischen Starrachse und Einzelradaufhängung. Logischerweise ist bei Fahrzeugen mit Einzelradaufhängung die Bodenfreiheit stark vom Einfederungszustand abhängig - also im statischen Fall von der Beladung. Bei Fahrzeugen mit Starrachsen wird jedoch der tiefste Punkt vom Differentialgehäuse der Achse markiert - und solange sich der Reifen nicht dramatisch staucht, bleibt der Abstand zwischen Differential und Straße konstant, unabhängig von der Beladung.

Allgemein betrachtet ist mit einer Einzelradaufhängung zwar die nominell höhere Bodenfreiheit realisierbar, da sich die Differentialachse oberhalb der Radnaben befindet (sofern ausgefedert), in der Praxis ist dieser Wert jedoch sehr variabel. Eine Starrachse hingegen erlaubt eine weitgehend konstante minimale Bodenfreiheit, die je nach Fahrzustand auch oberhalb der eigentlich besseren Katalogangabe der Einzelradaufhängung liegen kann - und es ist auch durchaus möglich, höhere Hindernisse zu überwinden als die Bodenfreiheit auf dem Papier zulässt, wenn der Fahrer weiß wo die Differentialkörbe liegen.

Als Beispiel: Die angegebenen 30 cm eines mit Luftfahrwerk hochgepumpten Touareg helfen gegenüber den 21 cm eines serienmäßigen Mercedes G beim Autoquartett, aber nicht zwingend in der Praxis... ;)

Eine Variante, der Starrachse zu mehr Bodenfreiheit zu verhelfen, sind Portalachsen. hier befindet sich die Radnabe nicht auf Höhe des Differentials, sondern sie wird mittels eines Stirnradgetriebes (Radvorgelege) "tiefergelegt", die Antriebswellen verlaufen also oberhalb der Radnaben. Als weitere Untersetzungsstufe realisiert hat dies unter Anderem auch den Vorteil, dass das Raddrehmoment nur an der Radnabe wirkt, die Antriebswellen und das Differential brauchen nicht so hohe Kräfte aushalten. Diese (teure und schwere) Technik findet sich allerdings nur in wenigen Fahrzeugen, darunter Unimog und Volvo C303. In Verbindung mit einer Einzelradaufhängung gibt es die Radvorgelege beim HMMWV und Steyr-Puch Pinzgauer.

 

Das zweite B: Der Böschungswinkel

 

boeschungswinkelboeschungswinkel

Das sollten eigentlich derer Zwei sein: Einmal vorne und einmal am Heck gemessen, ist dies der maximale Winkel zwischen der Ebene und einer Böschung, die ein Fahrzeug anfahren kann ohne aufzuliegen. Die Vereinfachung besteht darin, dass von exakt geraden Ebenen ausgegangen wird, welche sich über die gesamte Fahrzeugbreite erstrecken - das tritt bei natürlichen Strecken natürlich so gut wie nie auf, in Einzelfällen können diese Winkel auch gefahrlos überschritten werden, wenn z.B. nur ein Hügel vor einem Rad liegt, und die Fahrzeugecke nicht so weit hervorsteht wie die Mitte. Begrenzende Elemente sind die Fahrzeugüberhänge, Seilwinden vorne und/oder Anhängerkupplungen hinten können die schönsten Böschungswinkel versauen. Optimaler Weise (aber so gut wie nie realisiert) sollten die Winkel vorne und hinten identisch sein - denn es ist immer unschön, wenn man am Ende einer steilen Abfahrt zwar nicht die Fahrzeugfront unterhalb der Grasnarbe parkt, sich dafür aber mit den Anhängebock eingräbt, bis im Extremfall die Hinterachse in der Luft hängt...

 

 

Nie genug: Der Rampenwinkel

 

rampenwinkelrampenwinkel

Wenn man erfolgreich Front oder Heck über eine Böschung gehievt hat, stellt sich die Frage ob man auf eben selber anschließend mit der Wagenmitte aufliegt oder nicht. Darüber entscheidet der Rampenwinkel, welcher für gewöhnlich den Winkel zwischen gerade Ebene und Abhang angibt. Hier scheitert die Vergleichbarkeit bereits an der Messmethode - gemeinhin wird zwar der spitze Winkel zwischen Gerade und schiefer Ebene herangezogen (eben die Steigung), manchmal findet sich jedoch auch die Angabe in Relation zum Fahrzeugboden, welche dann deutlich geringer ausfällt. Ob mit oder ohne Beladung macht logischer Weise einen Unterschied, welcher aber im Datenblatt zumeist unterschlagen wird. Einseitig können sich durch Ein- oder Ausfederzustand sowohl kleinere als auch größere Werte ergeben, akademischer Weise geht auch diese Angabe vom idealisierten topfebenen Untergrund aus.

 

 

Heikle Sache: Der Kippwinkel

 

kippwinkelkippwinkel

Bei welcher Seitenlage macht das Fahrzeug den Salto? Die Angabe findet sich nicht mehr häufig in aktuellen Datenblättern, aber hier haben wir ausnahmsweise mal einen Wert, bei dem moderne, verhältnismäßig breite und flache SUV punkten können. Je höher der Schwerpunkt und je schmaler die Spurweite, desto schlechter sieht's mit dem Kippwinkel aus. Auch hier gilt zu beachten: Dieser Wert gilt für den statischen Fall, nicht während der Fahrt. Wenn 40 Grad angegeben sind, kann bereits ein kleiner Stein bei 30 Grad das Ende der Fahrt bedeuten - oder auch einfach nur eine unvorteilhafte Beladung. Der teilweise serienmäßige und gerne nachgerüstete Neigungswinkelmesser (oder auch Inklinometer) sieht schick aus und beeindruckt die meisten Mitfahrer ebenso wie der zweite Schalthebel, ist aber mehr Schätzeisen als Präzisionsinstrument - man sollte sich nie darauf verlassen. Meistens ist der gefühlte Winkel aber ohnehin größer als der tatsächliche, bereits bei 10 Grad Seitenneigung wähnt sich der ungeübte Fahrer kurz vor der Eskimorollo. Wieviel die Bodenbeschaffenheit überhaupt in der jeweiligen Situation zulässt, steht nochmal auf einem ganz anderen Blatt.

 

Sträflich vernachlässigt: Die Achsverschränkung

Das Trauerspiel moderner "Gelände"-Fahrzeuge, und gleichzeitig doch eine der Königsdisziplinen neben der Steigfähigkeit ist die Fähigkeit, beide Achse gegensinnig zu verdrehen und dabei alle vier Räder am Boden zu halten. Die Angabe stellt das Verhältnis von einseitigem Ein/Ausfederweg (in mm) zum Radstand (in cm) dar, und wird in Prozent angegeben. Waren noch in den 80er- und 90er Jahren alle Werte unter 100% (als Beispiel: 210 mm Federweg bei 200 cm Radstand = 210/200 = 105% - wissenschaftlich angreifbar, aber halt so definiert ;)) eines Geländewagen unwürdig, so zeigen uns heutige SUV-Fahrwerke eine ganz neue Qualität des Unvermögens. Für die Stabilität und Traktion im Gelände ist es elementar, möglichst alle Räder am Boden zu behalten, sobald das Kippeln auf drei Rädern beginnt werden Differentialsperren unabdingbar. Bei Einzelradaufhängungen setzen die Knickwinkel der Antriebswellen Grenzen, die hier - mal wieder - vorteilhaftere Starrachse erlaubt mehr Bewegungsfreiheit.

Geprüft wird übrigens nicht wie zumeist gezeigt, indem man mit einem Vorderrad eine Rampe hochfährt - sondern mit jeweils einer Rampe vor einem Vorder- und dem gegenüber liegenden Hinterrad. Auf diese Weise bleibt das Fahrzeug in der Waage, und der Wert wird nicht von der Gewichtsverteilung beeinflusst. Nur mit einer Rampe getestet, wäre der Wert achsweise unterschiedlich.

 

Rechenkunststück: Die Steigfähigkeit

Immer mit Vorsicht zu genießen: Dieser Wert wird lediglich berechnet, nicht gemessen - was auch kompliziert wäre, müsste man dazu doch Reifentyp, Untergrund, Temperatur und noch weitere Parameter berücksichtigen. Die Angabe erfolgt wieder einmal in Prozent, was bei Bedarf auf Gradzahlen umgerechnet werden kann - 100% entsprechen 45 Grad. Es erlaubt einen groben Vergleich, erhebt aber keinen Anspruch auf Realisierbarkeit. Wenn wir uns an den Physikunterricht erinnern, muss auf eine rollende Masse auf der schiefen Ebene eine der Hangabtriebskraft entgegen gerichtete, gleichgroße Kraft einwirken, um sie an einer konstanten Position zu halten. Den Reibungskoeffizienten schenken wir uns an der Stelle mal, und gehen von einer beliebig großen übertragbaren Kraft zwischen Reifen und Untergrund aus. Es bleibt daher die Gewichtskraft des Fahrzeugs, deren parallel zum Hang verlaufende Komponente und die entgegen wirkende Kraft am Hebelarm des Rades, welche durch das Drehmoment am Rad aufgewendet wird. Die Steigfähigkeit gibt den Winkel an, bei der Hangabtriebskraft und Antriebskraft tangential zum Radaußendurchmesser im Gleichgewicht sind. Realistisch betrachtet - anfahren könnte das Fahrzeug in der Situation nicht mehr, würde aber auch nicht den Hang hinunter rollen (vorausgesetzt, der Motor könnte sein maximales Drehmoment ohne Drehzahl erzeugen).

Das maximale Drehmoment am Rad ergibt sich relativ einfach aus dem Produkt des Motordrehmomentes und der kürzest möglichen Übersetzung, beim Offroadern zählt also üblicherweise der 1. Gang und die Untersetzungsstufe. Faktoren, die eine Erhöhung der Steigfähigkeit zur Folge hätten, wären also weniger Gewicht, kürzere Übersetzung, reduzierter Raddurchmesser oder schlicht mehr Motordrehmoment. In der Kombination aus ultrakurzer Übersetzung und drehmomentstarkem Diesel können sich Werte über 200% ergeben, ohne dass diese Werte in der Realität jemals umsetzbar wären. Im Umkehrschluss können aber auch Fahrzeuge mit 60% Steigfähigkeit einen 45-Grad-Hügel erklimmen, wenn sie genügend Schwung haben.

 

Noch mehr Theorie: Die Wattiefe

Immer für eine Stammtischdebatte gut, gibt dieser Wert lediglich die Tiefe an, die das Fahrzeug unbewegt im ebenso stehenden Gewässer einen längeren Zeitraum übersteht, ohne einen technischen Schaden zu nehmen. Begrenzende Elemente sind zumeist die Entlüftungsöffnungen von Differentialen oder Getrieben, welche unter Wasser gesetzt an eben diesen Bauteilen größere Schäden durch Schmierstoffausdünnung nach sich ziehen können. Der Wert hat meistens absolut nichts mit der Höhe der Luftansaugung zu tun, und auch Anlasser und Lichtmaschine funktionieren unter Wasser. Die Motorelektronik meistens nicht mehr, aber wenn das Wasser erstmal so hoch steht, hat man ganz andere Probleme. Übrigens läuft auch der Auspuff unter Wasser weiter, bei den üblichen Wattiefen von PKW ist der Gegendruck noch nicht so hoch, als dass es den Motor abwürgen würde.

Durch geeignete Maßnahmen (Entlüftungen mit Schlauch und Schwanenhals verlängern, Schnorchel für Luftansaugung, etc.) lässt sich die Wattiefe auf Werte erhöhen, bei denen der Fahrer eine Taucherausrüstung benötigt - insofern lässt sich hier festhalten, dass die Wattiefe weder für den Ottonormalfahrer eine Aussagekraft besitzt (denn in die Situation, dass er sich sagt "hättest Du mal Modell xy mit 5 cm mehr genommen, wird er wohl nie kommen), noch für denjenigen der sie wirklich benötigt, denn der modifiziert sowieso nach seinen Erfordernissen, bevor er sich auf die Angabe verlässt.

 

 

Und demnächst auf diesem Sender: Der Allradantrieb, welchen habe ich und wohin komme ich damit? :)


Tue Jul 13 23:17:50 CEST 2010    |    Spannungsprüfer13299

Einige Beispiele vom Testgelände:

 

http://www.youtube.com/user/gummibaer67#p/a/u/2/PMtjkHNZD9Y

 

 

Gruß SRAM

Wed Jul 14 00:04:32 CEST 2010    |    Provaider

Jetzt fehlt nur noch das die Portalachsen erklärst bei der bodenfreiheit.

 

Sonst sehr gut für Neulinge und Wissensdurstige

Wed Jul 14 06:37:54 CEST 2010    |    Multimeter28270

@ der_Derk :

Da spreche ich doch mal Lob und Anerkennung aus....

Super erklärt

Wed Jul 14 07:53:58 CEST 2010    |    der_Derk

Danke :)

 

Die Portalachsen habe ich ergänzt, wobei das fast schon eine eigene Rubrik wäre.

Fri Feb 08 14:33:08 CET 2013    |    Faltenbalg135724

...das ist doch alles super erläutert - da könnte sich so mancher "Prospektersteller" ein Beispiel nehmen:)

Tue May 19 16:17:47 CEST 2015    |    der_Derk

Hm, interessant, an welchen Stellen man sich überall zitiert findet. Der Wikipedia-Nutzer -donald- war anscheinend so überzeugt von meiner Darstellung, dass er diese mit marginaler Abwandlung einfach mal übernommen hat. Weiß nicht - sagt man da "Danke"?

 

Meine Auffassung von Zitaten - bildlich oder schriftlich - war ja immer, dass man den Ersteller zumindest informiert, oder gar vorher fragt, bevor man sein Material verwendet. Altmodisch, ich weiß...

Tue May 19 17:23:42 CEST 2015    |    Olli the Driver

Kannst ja dort melden. Habe ich seinerzeit auch gemacht als ein User mehrere Berichte aus meinem Blog in einem anderen Forum unter seinem Namen (den er auch nahezu von mir geklaut hat) eingestellt hat. Die Berichte und der User wurden dort dann gelöscht.

Tue May 19 17:36:36 CEST 2015    |    der_Derk

Ich erinnere mich, da war was bei Dir...

 

Eigentlich wollte ich in diesem Fall kein Fass aufmachen. Bei Bildern/Grafiken muss für eine Urheberrechtsverletzung eine gewisse Schöpfungshöhe gegeben sein, und dafür schätze ich die paar Piktogramme als nicht ausreichend ein.

 

Guter Lacher auch: Entstanden ist das anscheinend bei der Wikipedia-Grafikwerkstatt, die einfach mal Ergebnisse der Google-Bildersuche verwendet. Interessantes Arbeitsprinzip...

Thu Sep 24 14:15:59 CEST 2015    |    Wolfgang Wegner

nice

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