Sat Dec 03 19:12:51 CET 2022 | British_Engineering | Kommentare (12) | Stichworte: Belgien, DOHC, Genk, Heckantrieb, Indenor, Sierra
Neun – zehn – hundert – zwei – und – achtzig. Wie weit weg das klingt. Es war das Jahr, als BAP mit den Hits „Verdamp lang her“ und „Südstadt verzäll nix“ durch das Land tourte, im April das erste deutsche Retortenbaby geboren wurde, im Mai die noch junge Demokratie Spanien in die NATO eintrat, im Juni rund 350.000 Menschen auf der größten deutschen Kundgebung aller Zeiten in Bonn gegen US-amerikanische Atomraketen und Aufrüstung demonstrierten und am 1.10. Helmut Kohl durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt zum Bundeskanzler wurde.
Genau dieser 1.10.82 war auch für die deutschen Ford-Händler ein wichtiger Tag: Es war das Datum des Verkaufsstarts für den Sierra. Endlich hatte Ford wieder in der Mittelklasse ein konkurrenzfähiges Angebot, nachdem der wackere Taunus in den letzten Jahren gegen die Platzhirsche wie Passat 32B, Ascona C, Audi 80 der zweiten Generation oder die Neuauflage des Honda Accord immer mehr Boden verloren hatte. Flache Front (beim Ghia-Modell sogar ohne Kühlergrill), stark geneigte Front- und Heckscheibe, ansteigende Gürtellinie, Aeroheck wie beim Escort – der Sierra fiel im Straßenverkehr auf.
Ford hatte sich aber nicht nur auf eine moderne Karosserie beschränkt, sondern auch am Fahrwerk viel gemacht. Die hintere Starrachse war einer aufwändigen Schräglenker-Konstruktion gewichen, die für präzises Handling und guten Federungskomfort sorgte. Der Heckantrieb war allerdings geblieben, was aber keineswegs ein Nachteil war, denn der Sierra war ein Auto ohne Tücke und konnte auf kurvigen Straßen oder im Winter schon viel Spaß machen. Die präzise Schaltung und die zielgenaue Lenkung fielen ebenfalls positiv auf, zumal letztere zumindest bei den kleineren Motoren auch ohne Servounterstützung ausreichend leichtgängig war. Ab 1985 gab es auf Wunsch auch Allradantrieb, und zwar nicht nur im brachialen Sierra Cosworth und einigen Sechszylinder-Ausführungen, sondern später auch in ganz normalen Vierzylindern.
Auf dem Gebiet der Motorisierung war deutlich weniger Geld in die Hand genommen worden. Alle in den ersten Jahren verfügbaren Benzinmotoren waren bereits aus dem Taunus bekannt. Die 1,6 Liter und 2 Liter-OHC-Vierzylinder gingen relativ sparsam mit dem Kraftstoff um und boten zumindest im Falle des 2 Liter-Aggregats genügend Durchzugskraft schon bei niedrigen Drehzahlen, waren aber von den akustischen Umgangsformen her nicht unbedingt „state of the art“. Die Sechszylinder boten deutlich mehr Laufkultur. Die seit 1964 bei Ford verwendeten Grauguss-Helden mit zentraler stirnradgetriebener Nockenwelle, langen Stößelstangen und Kipphebeln hatten mit modernen Konstruktionsmerkmalen nicht viel am Hut, boten aber neben dem sanften Motorlauf eine sehr hohe Haltbarkeit. Nachteile waren neben der recht trägen Art der Leistungsentfaltung vor allem der hohe Spritverbrauch. 13 Liter und mehr waren kein Problem, wenn die Leistung dauerhaft abgerufen wurde.
Erstmals bot Ford in der Mittelklasse auch einen Diesel an. Dies war ein vom französischen Diesel-Spezialisten Indenor entwickelter und über Peugeot bezogener 2,3 Liter Saugmotor, wie er in ähnlicher Form auch im Peugeot 504 und 505 verwendet wurde. Indenor-Motoren wurden in großen Stückzahlen in Stromaggregaten, Baumaschinen und Traktoren verwendet und in angepasster Form in kleinere Wasserfahrzeuge eingebaut. Mit seinem sehr lauten Kaltstartnageln und deutlich spürbaren Vibrationen übertrug dieser Motor das Flair eines bretonischen Fischkutters in die bürgerliche Mittelklasse. Da er aber sparsam mit dem Sprit umging und bei normaler Behandlungsweise nahezu unzerstörbar war, wurde er stets in beachtlichen Stückzahlen geordert.
Im Jahre 1989 führte Ford einen neuentwickelten 2 Liter-DOHC-Motor ein, der den Sierra der Konkurrenz ebenbürtig wenn nicht überlegen machte. Er wurde als Einspritz-Version mit geregeltem Katalysator und für nur wenige Wochen auch in einer Vergaserversion mit ungeregelter Abgasentgiftung angeboten. Ein Jahr später schickte Ford den Diesel-Dinosaurier von Indenor in den Ruhestand und ersetzte ihn durch eine turbogeladene Version des hauseigenen, zusammen mit Klöckner-Humboldt-Deutz entwickelten 1,8 Liter-Diesels.
Modellpflege wurde generell groß geschrieben beim Sierra. Anfang 1985 bekamen die meisten Modelle mit Benzin-Motor die glatte Front des Sierra Ghia verpasst und es kam zur Aufwertung der Ausstattung. Im Februar 1987 stand dann ein sehr gründlich überarbeitetes Modell mit komplett neuer Front und in vielen Details verändertem Innenraum bei den Händlern. Zur Schrägheck- und Kombi-Version (bei Ford traditionell als „Turnier“ bezeichnet) kam ein Stufenheck-Modell hinzu, um auch konservative Kunden bei der Stange zu halten. Ab März 1990 gab es die letzte Ausgabe des Sierras mit kleinem, in Wagenfarbe lackierten Kühlergrill, nochmals verbesserter Ausstattung und schwarz eingefärbten Rückleuchten bei allen Limousinen. So lief er bis zum Produktionsende im Februar 1993 vom Band. Die meisten Sierras wurden im belgischen Genk gefertigt, aber auch in Großbritannien, Irland, Südafrika, Argentinien, Venezuela und Neuseeland gab es Produktionsstätten.
Wie weit die Zeit des Sierras mittlerweile im Rückspiegel liegt, lässt sich vielleicht am besten daran ablesen, dass der Bundeskanzler seit Herbst 1998 nicht mehr Helmut Kohl heißt sowie das Ford-Werk in Genk im Dezember 2014 für immer geschlossen wurde. Und mal so ganz nebenbei: Wann wurde das letzte Mal „Verdamp lang her“ im Radio gespielt? |
Sat Dec 03 19:18:08 CET 2022 | ToledoDriver82
Ein Auto was ich definitiv auch fahren würde,mit dem 2l durchaus ausreichend motorisiert und voll alltagstauglich... schöner Artikel
Sat Dec 03 20:33:16 CET 2022 | PIPD black
Der Sierra war vor 17/18 Jahren, als wir bauten, schon ein seltener Kollege aber als Gebrauchtwagen noch findbar. Bekannte hatten sich einen Turnier als Baustellenhure angeschafft und ihn zu Grunde gerichtet. Überladen und mit schweren Anhänger hatte sich sogar die Karosse verbogen. Schade eigentlich, denn bei Kauf stand er gar nicht so schlecht da.
Sat Dec 03 20:39:21 CET 2022 | ToledoDriver82
Das war ja das Schicksal vieler (billigen) Kombis
Sat Dec 03 22:12:29 CET 2022 | Dynamix
Bezüglich der letzten Frage:
Den Song hört man bei uns an Karneval oder auf Dorfdiscos noch häufig
Die Begegnungen mit den frühen Sierras wie auf den Bildern kann ich allerdings an einer Hand abzählen. Hier in Kölle vielleicht zwei Stück gesehen. Einer sogar mit H und in sehr gutem Zustand. Aber das dürfte dann auch ein Liebhaber sein.
Sat Dec 03 22:20:49 CET 2022 | ToledoDriver82
Bis vor ein paar Jahren, fuhr hier noch ein roter Kombi der ersten Serie rum,der Lack matt, einige Schäden aber er fuhr. Irgendwann hat er wohl aber kein TÜV mehr bekommen,nun fährt er Omega B.
Sun Dec 04 15:34:32 CET 2022 | Goify
Der Sierra war Papas erstes Westauto nach einem Trabant 601. Und wir waren so einigermaßen zufrieden mit dem Teil. Mein Papa mochte ihn mit seinen 75 PS aus 1,6 Litern Hubraum, meine Mutti fand das Design des frühen 84er Modell potthässlich, aber das riesige Fließhecke hatte seine Vorteile, wie die riesigen Vordertüren des Dreitürers ihre Nachteile. Auf die Hutablage gesellten sich dann noch die damals typischen Aufbaulautsprecher. Es waren eben die frühen 90er und da war das so.
Ein beginnender Getriebeschaden besiegelte dann das Ende bei uns und wir kauften uns (irgendwie typisch für Leute aus dem Osten) einen Hyundai Pony. Das "neue" Austauschgetriebe hatte Papa sogar schon besorgt, nur hat er es nie eingebaut. Ich habe mich an so etwas schon mal gewagt und eins getauscht.
Mir bleibt die schöne Erinnerung an diesen gletscherblauen großen Wagen mit unfassbar gutem Fernlicht (im Vergleich zu den 6 Volt im Trabant). Und Papa fuhr mit etwas Pause (Hyundai, 190er Mercedes, Golf II, zwei Passat) einen Mondeo Mk3, 2 x Mk4 (einer hatte einen Kolbenfresser), Mk5 und jetzt den zweiten Mk5. Das wird wohl sein letzter Ford werden, da der Mondeo eingestellt wurde. Was er dann nimmt, ist unklar, da auch der Insignia eingestellt wurde, bleibt nur noch der Passat übrig und der ist einfach teuer.
Sun Dec 04 15:36:57 CET 2022 | Goify
Ich höre den Song noch hin und wieder, aber dazu dann dieses Video: https://www.youtube.com/watch?v=Gw-AxiVqihM
Sun Dec 04 20:08:39 CET 2022 | carchecker75
Ich hatte 3 Ford Sierras 2l DOHC 122 PS als Winterauto/Übergangsauto alle weit unter 1000 Euro gekostet waren dankbare solide Kisten.
Mon Dec 05 09:27:16 CET 2022 | pico24229
Der Sierra mit Schrägheck so wie auf dem ersten Foto finde ich richtig schick und cool. Alle anderen Versionen eher weniger. So einen Sierra habe ich auch als Modellbausatz mal auf einem Flomarkt bekommen, ich meine von Tamiya.
Mon Dec 05 09:40:04 CET 2022 | Goify
Die haben da ja ganz schön Aufwand getrieben mit den Versionen: Kühlergrill mit und ohne Kühlluftöffnung, Doppelscheinwerfer, normale Scheinwerfer, Außenspiegel mal oben aufgehängt, mal integriert. 3-Türer mit unterschiedlich vielen Seitenfenstern (2 oder 3 je Seite)!
Mon Dec 05 09:44:50 CET 2022 | VolkerIZ
Ist ja nicht ungewöhlich bei Ford. In den 70ern hat man bei Escort, Taunus und Granada nach ein paar Jahren die gesamte sichtbare Verblechnung geändert, weil die Formen schneller aus der Mode waren als geplant, die Struktur da drunter war immer noch die selbe. Eigentlich eine brauchbare Lösung, hält die Kosten im Rahmen und spart eine Neuentwicklung. Beim Sierra ist das mehr schrittweise passiert. Der allererste Sierra hatte ja sogar noch Regenrinnen. Und die 3 Scheiben hatte nur der XR 4i.
Mon Dec 12 17:29:35 CET 2022 | MT-Christoph
Den Sierra gab es sogar noch mit dem guten Köln V6. Bis zum 2.9i.
Sowas sollte fahrtechnisch eine Menge Spass bereiten.
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