Berlin - Laut einer Online-Umfrage leiden 42 Prozent der deutschen Auto-, Bus- und Lastwagenfahrer unter plötzlichem Sekundenschlaf hinter dem Lenkrad. Jeder fünfte Unfall wird nach Schätzung der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) durch Übermüdung verursacht.
"Schläfrigkeit am Steuer ist ein extrem unterschätztes Problem", sagt die Mannheimer Schlafmedizinerin Maritta Orth. Sie fordert unter anderem, bei Führerscheinprüfungen künftig Fragen zum persönlichen Schlafverhalten zu stellen. Insbesondere zu Müdigkeit und Schläfrigkeit am Tag - und das vor allem bei Berufskraftfahrern.
Es ist, als ob ein Vorhang herunter fällt
Der Trend bei den deutschen Fahrer ist für die Schlafmediziner alarmierend. Bereits Ende 2012 gab bei einer Umfrage des Deutschen Verkehrssicherheitsrats ein Drittel der Autofahrer zu, am Steuer schon einmal in einen Sekundenschlaf gefallen zu sein. Fast jeder Fünfte erlebte eine gefährliche Situation oder baute einen Unfall.
Sekundenschlaf ist ein plötzliches, unbemerktes Einnicken. "Ab einem bestimmten Punkt der Übermüdung Schlafmangel beeinträchtigt die Wahrnehmung und hat ähnliche Folgen wie Alkohol am Steuer Quelle: dpa/Picture Alliance
kann man nichts mehr dagegen machen", erläutert Schlafmedizinerin Orth. "Das ist, als ob ein Vorhang runterfällt."
Deshalb sei es ein Irrglaube, sich mit Kaffee, lauter Musik oder frischer Luft wach halten zu können. "Das einzige Mittel gegen Schläfrigkeit ist Schlaf", betont Orth.
Die Bundesanstalt für Straßenwesen geht davon aus, dass 10 bis 20 Prozent der Verkehrsunfälle auf Deutschlands Straßen mit Müdigkeit am Steuer zu tun haben. Bei 300.000 registrierten Unfällen im Jahr 2012 wären das bis zu 60.000.
Auffällig ist, dass Schläfrigkeit besonders bei schweren Crashs eine Rolle spielt. Der Grund? "Wir überschätzen uns", sagt Orth.
Trucker haben vier Mal häufiger eine Apnoe
Oft ist es nicht nur der Schlafmangel einer Nacht, der Stress, die Schichtarbeit oder Termindruck, der zu Müdigkeit am Steuer führt. Rund zehn Prozent der Bevölkerung sind nach Angaben der Wissenschaftler von Ein- und Durchschlafstörungen betroffen - unabhängig vom Lebensalter.
Dazu kommen rund 90 weitere Krankheitsbilder im Zusammenhang mit Schlaf. Zu den bekanntesten zählt die Apnoe, bei der nachts der Atem bei lautem Schnarchen kurz aussetzt. Folgen dieses Sauerstoffmangels sind Erschöpfung und Müdigkeitsattacken am Tag.
2004 ergab eine Studie, dass 16 Prozent der befragten Lastwagenfahrer in Deutschland eine Apnoe hatten - viermal häufiger als die Durchschnittsbevölkerung. "Das ist erschütternd. Sie transportieren ja auch Menschen und Gefahrgut", sagt Forscherin Orth. "Müdigkeit am Steuer wird stark unterschätzt", sagt auch Sven Rademacher, Sprecher des Deutschen Verkehrssicherheitsrats.
Manche Automobilhersteller haben bereits Müdigkeitswarner im Programm Quelle: Mercedes-Benz
"Ein großes Problem dabei ist, dass valide Daten fehlen." Denn nach einem Unfall werde Müdigkeit als Grund in der Regel nicht abgefragt. "Wer mag schon zugeben, dass ihm einfach die Augen zugefallen sind?", fragt Rademacher. "Das hat ja sofort Konsequenzen für die Unfallschuld."
Stinkende Stoffe als Hilfsmittel
Übermüdung am Steuer kann ähnliche Folgen haben wie Alkohol: Der Fahrer fährt Schlangenlinien, kann Entfernungen schwer einschätzen und nimmt Hindernisse nicht mehr richtig wahr. Zwar gibt es bereits Fahrerassistenzsysteme, die zum Beispiel das Lenkverhalten erfassen und ein Warnsignal abgeben. "Wer aber nur noch 20 Kilometer vom Ziel entfernt ist, betrachtet das doch nur als nett gemeinte Aufforderung", sagt Ulrich Chiellino, Fachreferent für Verkehrspsychologie beim ADAC.
Manchmal ein tödlicher Irrtum - denn Sekundenschlaf-Attacken ließen sich weder vorher wahrnehmen noch steuern. Es werde bereits ernsthaft daran gedacht, stinkende Stoffe einzusetzen, um Autofahrer zum Anhalten zu bewegen, berichtet Chiellino.
Einen anderen Weg haben deutsche Schlafforscher mit der Berufsgenossenschaft der Bahnen gefunden. Sie entwickelten einen Fragenkatalog, mit dem Arbeits- und Betriebsmediziner Schlafstörungen besser diagnostizieren können.
Seit 2007 gilt pathologische Schläfrigkeit als Grund für Fahruntauglichkeit. Würden Menschen, die um ihren Job fürchten, bei Antworten nicht lieber lügen? Die Wahrscheinlichkeit ist groß. Denn wer mit einer diagnostizierten Schlafstörung einen Unfall baut, hat schlechte Karten. "Das ist dann kein Kavaliersdelikt, sondern ein Straftatbestand", sagt Expertin Orth.