Weil keine Pkw nach Argentinien importiert werden durften, schiffte Mercedes in den 70ern "La Pick-up" als Bausatz über den Atlantik. Ausfahrt im /8 W 115 mit Ladefläche.
Ljubljana – Viel passiert nicht, wenn man das Gaspedal tritt. Es leistet Widerstand. Langsam drückt man es herunter, und langsam steigt Geschwindigkeit. Dazu brummt der Motor wie eine sehr große Hummel. Das beruhigt. „Wanderdüne“ nannte man den alten Strich-Achter, das passt gut. Nur: Wie soll der hier zusätzlich zu sich selbst noch Zementsäcke oder Kanthölzer transportieren? Oder einen Tank voller Schmierfett? Musste er aber. Der W 115 ist keine normale Limousine, sondern ein Pick-up. Bei der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) war er früher im Arbeitseinsatz, Weichen musste er schmieren. Deshalb saß der Fetttank auf der Pritsche. Mercedes /8 "La Pick-up": Als Bausatz über den TeichQuelle: Heiko Dilk für mobile.de Dabei hat „La Pick-up“ in Deutschland nichts zu suchen. „Sie“ wanderte in den 1970ern nach Argentinien aus. Zwischen 1972 und 1976 gelangten etwa 6.000 bis 6.500 Strich-8er mit Ladefläche über den Atlantik. Wie viele hier blieben, weiß niemand genau. Wie viele es hier – oder in Argentinien – aktuell gibt, auch nicht. „Dieser hier ist unseres Wissens der einzige in Deutschland“, sagt Thomas Konzelmann an der offenen Motorhaube. Er greift in den Motorraum und zieht am Gaszug. Der Diesel brummt. Konzelmann hat das Exemplar in Englisch-Rot für Mercedes-Benz Vans gekauft und wieder zum Laufen gebracht. Wie er da ran gekommen ist? "Ganz normal über mobile.de", sagt der Daimler-Mann. Ein Mitarbeiter hat den Pick-up dort entdeckt und Konzelmann darauf aufmerksam gemacht. Das war vor ungefähr fünf bis sechs Jahren. Der 2,2-Liter-Diesel startete noch, hatte aber keine Kompression. Der W 115 war grün, „mehr gestrichen als lackiert“. Bei der Straßenbahn wurde "La Pick-up" noch ein wenig "customized", um den Bedürfnissen als Service-Fahrzeug gerecht zu werden. "Die haben den umgebaut, weil sie den anders brauchten", erklärt Konzelmann die Heckpartie und die hinteren Seitenteile. Nachdem er bei der Straßenbahn gedient hatte, war der /8 durch viele private Hände gegangen. Der Gesamtzustand war beklagenswert. Konzelmann kaufte ihn trotzdem. „Der hat ja nichts gekostet. 1.500 Euro waren das vielleicht. Der war völlig hinüber.“ Und blieb es vorerst. Das Thema Pick-up hatte Mercedes damals nicht im Fokus, die X-Klasse war noch nicht beschlossen. Und "La Pick-up" war bis dahin bei Mercedes eine rein argentinische Angelegenheit, hierzulande nur eine nette Kuriosität. Dass es die Modelle überhaupt gab, war kein Allgemeinwissen bei Daimler. Von der Straßenbahn durch viele HändeQuelle: Daimler Konzelmann stieg nach dem Kauf in die Recherche ein und legte eine Geschichte frei, die ähnlich kurios ist wie das Auto, um das sie sich dreht. „Schuld“ am /8-Pick-up war der argentinische Protektionismus, der schon kurz nach der Weltwirtschaftskrise 1929 unter der Militärregierung begann. Argentiniens „Übervater“ Juan Peron führte ihn fort. Zahlreiche Staatsunternehmen wurden gegründet, Importverbote und Handelsbeschränkungen sollten die argentinische Wirtschaft schützen. Bis zum Militärputsch 1976 war die Einfuhr von Kraftfahrzeugen untersagt. Ausländische Unternehmen durften lediglich mechanische Komponenten und Karosserieteile importieren und vor Ort zu kompletten Fahrzeugen zusammensetzen - sofern es keine Pkw waren. Nutzfahrzeuge waren erlaubt. Mercedes umschiffte das Verbot mit der Lieferung sogenannter CKD-Bausätze nach Argentinien („completely knocked down“). Aus den Rohbauten mit Ladefläche entstanden im Werk Gonsález Catán in der Nähe von Buenos Aires komplette Pick-ups. Es gab sie als Einzel- und sogar als familientaugliche Doppelkabine. „Das war im Prinzip ein /8er ohne Heckdeckel“, sagt Konzelmann. 60 PS für 710 Kilogramm ZuladungQuelle: Daimler Alle wurden vom 2,2-Liter-Vierzylinder-Diesel OM 615 angetrieben. 60 PS und 126 Newtonmeter Drehmoment mussten für alle Transportaufgaben genügen. Immerhin 710 Kilogramm konnte "La Pick-up" bei knapp 1,4 Tonnen Eigengewicht zuladen. Die Ladefläche misst 1,92 Meter in der Länge, an der breitesten Stelle 1,50 Meter. Volle Beladung möchte man dem grundsanierten Museumsstück heute nicht mehr zutrauen. Obwohl es wohl nicht darunter zusammenbrechen würde. Die Bodenbleche wurden erneuert. „Das rechte gab es noch als Ersatzteil, das linke mussten wir anfertigen“, sagt Konzelmann. Der Zylinderkopf stammt aus seinem Fundus. „Ich hatte noch einen im Keller.“ Neu aufgebaut wurde der Motor allerdings von den Klassik-Experten bei Mercedes. Der Diesel startet und schnurrt tadellos. Natürlich erst nach einer „Rudolf-Diesel-Gedenksekunde“. Man muss ihn noch per Hand vorglühen. Knopf hinter dem Lenkrad ziehen, 21, 22, 23, 24, 25 zählen, Hebel ganz ziehen – und der Selbstzünder erwacht. "La Pick-up" als Vorfahr der X-KlasseDer alte Dreigang-Wandler schaltet zwar selten, aber wenn er es tut, sortiert er die drei Gänge sehr sanft. Konzelmann hat die Automatik selbst hergerichtet, nebenbei, nach Feierabend. „Wann hat man schon mal die Möglichkeit, so ein Getriebe zu überholen?“ Seinem Chef Dieter Zetsche habe er die Arbeitszeit nicht in Rechnung gestellt. „Den Zylinderkopf auch nicht“, sagt er. „Ein bisschen Leidenschaft muss schon dabei sein.“ Es ist das erste Mal seit der Restaurierung, dass „La Pick-up“ von "Fremden" bewegt wird. Zwar stand die Pritsche im Oktober 2016 schon bei der Premiere des Concept X-Class in Stockholm. Damals war sie aber längst nicht fertig restauriert. Sie war ein Blender, äußerlich gut in Schuss und in einem der drei möglichen Original-Farbtöne lackiert, aber technisch noch ein Wrack. Daimler wollte zur Präsentation des neuen Pick-up schnell noch die Historie präsentieren. Erst jetzt fährt sie wieder, "La Pick-up." ***** In eigener Sache: Wir verschicken unsere besten News einmal am Tag (Montag bis Freitag) über Whatsapp und Insta. Klingt gut? 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