Hubert Kriegel lebt sein halbes Leben auf seinem Ural-Gespann und verdient in der anderen Lebenshälfte das Geld, um das zu tun. Er ist der ultimative Motorrad-Nomade. Wahrscheinlich kriegt jede Motorradredaktion diese Briefe: „Hallo, ich bin mit meinem Großroller bis nach Bottrop gefahren! Macht eine Geschichte über mich! PS: Gebt mir Geld!“ Es wäre unfair, den Großrollerern pauschal das Abenteuer abzusprechen, denn Abenteuer sind eine subjektive Angelegenheit, doch freut es die Redakteure als puren Kontrast, über Leute wie Hubert zu lesen, über jemand, der geradezu zwanghaft um den Globus spaziert, dessen sesshafte Episoden nur dazu dienen, Geld zum Weiterziehen zu verdienen. Hubert ist ein reinrassiger Nomade im Herzen. Anders als die meisten reist er nicht aus Spaß oder zum Nervenkitzel. Er reist, weil er muss. „Ich weiß, das ist ziemlich egoistisch“, sagt er. „Aber ich kann nicht anders. Für manchen sieht es vielleicht nach einer oberflächlichen Laune aus, aber für mich geht es viel tiefer. Manchmal treffe ich Leute, mit denen ich eine halbe Stunde zu tun habe und wir bleiben für immer in Kontakt. Wenn ich unterwegs bin, habe ich keine Route, keinen Zeitplan. Jeden Morgen entscheide ich, ob ich gehe oder bleibe; ich entscheide an jeder Kreuzung spontan, ob ich links oder rechts abbiege. Das ist Freiheit. Bequemlichkeiten brauche ich nicht. Ich liebe es, unter freiem Himmel im Schlafsack auf einer Plane zu schlafen.“ Klar, dass ein Motorrad zu so einer Lebensweise passt wie die Faust aufs Auge. Mit etwa 16 verlor Hubert einen Finger an eine Hoteltür. Sein Vater machte ihm daher tröstenderweise ein großes Geschenk zum nächsten Geburtstag: ein Mofa. Genauer: eine Motobécane Mobylette — in orange, weil orange schneller ist als blau. Hubert war sofort unkurierbar angefixt. Etwa zu dieser Zeit erwachte auch sein Reisedrang. Also ließ er sein Mofa daheim in Paris, ging nach Israel in ein Kibbuz und bereiste von dort aus Galiläa mit einem Esel, den er schließlich auf dem Markt von Nazareth verkaufte. Vielleicht reichte ihm das Leistungsgewicht nicht. Zurück zuhause berief ihn die französische Armee ein. Beide hatten wenig Freude aneinander. Wahrscheinlich war das ein zusätzlicher Anreiz, nach dem Militärdienst mit einen Freund durch Japan zu reisen. Die beiden jungen Männer kauften sich kleine 125er in Tokio, fuhren damit zwischen den Reisfeldern entlang und schliefen neben ihnen im Freien. Das waren alles noch Einspurfahrzeuge, wenn man den Esel jetzt mal als solches bezeichnet. Der Beiwagen kam später, 1971, mit 25 Jahren. Hubert saß beim Abendessen mit Freunden, die sich dazu entschlossen, jetzt mal mit Motorrädern ums Rote Meer zu fahren. Diese Anwandlungen kennt man ja. Die meisten vergessen sowas bis zum nächsten Morgen. Huberts hingegen ging in den Druck: Da keiner Geld hatte, druckten sie einen Flyer, den sie an sämtliche Hersteller und Importeure Frankreichs schickten, ähnlich der Bottrop-Großroller-Masche. Auf einer Messe bot ihnen der Ducati-Importeur tatsächlich einen 450-ccm-Scrambler für diese Tour an. Undankbare Jugend: „Es war das perfekte Motorrad, aber ich konnte nicht verstehen, warum uns der Typ nur ein Motorrad für drei Leute gab“, erinnert sich Hubert. Sie gingen weiter durch die Messehallen, Klinken putzen. Der Moto-Guzzi-Importeur bot den Jungens eine brandneue Guzzi V7 an. Undankbare Jugend, II: „Das war das schlimmste Motorrad, das ich mir vorstellen konnte, niedrig und schwer, aber wir sagten ‚Danke‘ mit so viel Enthusiasmus, wie wir aufbringen konnten.“ Zwei Mann waren untergebracht. Einen Führerschein hatte übrigens noch keiner des Trios. Da kam ein engagierter Mann auf sie zu, fragte sie über ihre Planung in Sachen Autonomie, Wartung, Ersatzteile aus und kam am Ende zu dem Schluss: „Ihr braucht einen Seitenwagen.“ Eben diesen gab und montierte er ihnen an die V7. Der Mann war Guzzi-Händler in Paris und fuhr überdies selbst Seitenwagenrennen. Zum zweiten Mal im Leben war Hubert verloren: „Ich mochte das Feeling des Seitenwagens vom ersten Kilometer an. Seitdem fahre ich praktisch nichts anderes.“ Im dritten Anlauf zwei Wochen vor der Abfahrt ans Rote Meer schaffte er sogar seine Führerscheinprüfung. Nach einigen kurzen Intermezzi (Vietnam-Tour auf einer kleinen Honda, Heirat, zwei Kinder) eröffnete Hubert in Paris den Nachtclub „Le Paradis Latin“. Er hatte nämlich zuvor mit seinem Vater ein altes Lagerhaus gekauft, das ursprünglich 1888 unter demselben Namen von Italienern als Theater erbaut worden war. Das Objekt erwies sich als unverkäuflich. Es erwies sich überhaupt als unwirtschaftlich: „Künstlerwohnhaus, Supermarkt, Parkplatz, Kino, nichts hat funktioniert“, erzählt Hubert. „Dann trafen wir Jean Marie Riviere mit seiner Music-Hall-Kultur und entschieden spontan, einen Club im Stil des Lido oder Moulin Rouge zu machen, aber mit mehr ‚Parisianismus‘. Ich wurde also Nachtclub-Manager, und weil ich nicht viel Schlaf brauche und keinen Alkohol trinke, lebte ich die nächsten sieben Jahre ziemlich gut.“ Seiner Ehe tat das Club-Leben weniger gut: Er lernte dort seine spätere zweite Frau Lorraine kennen. Nachdem Hubert und Lorraines erstes Kind drei Monate alt war, siedelten die beiden nach Los Angeles, Amerika über. Ihr amerikanischer Traum war es, ein angepasstes Paradis Latin in LA zu eröffnen. Hubert hatte 80.000 Dollar in der Tasche, konnte aber keine weiteren Finanziers auftreiben: „Ich bin darin nicht gut.“ Deshalb waren die 80.000 Dollar nach einem Jahr verbrannt und der Mann des Hauses musste arbeiten gehen. Zuerst als Restaurant Manager. Dann versuchte er, Solarpaneele zu verkaufen — erfolglos. Schließlich sprach er bei einem Kurierdienst vor, dessen Besitzer sein Gespann mochte und ihn einstellte. Hubert fuhr Tag und Nacht, fast zwei Schichten, um fast das Doppelte der anderen Kuriere zu verdienen. Dennoch: „Versteh mich nicht falsch: Kurierdienst fahren ist ganz unten auf der Karriereleiter. Ich holte meine Tochter Jessica von der Schule ab, die dann im Seitenwagen aß und schlief, bis ich irgendwann in der Nacht nach Hause kam. Ich wartete auf eine Chance.“ Drei Jahre lang lebte er mit seiner Tochter pratisch auf dem Gespann, bis diese Chance kam. Ein Freund wollte in New York einen Farbseparations-Betrieb kaufen. Hubert zog in den Big Apple, beteiligte sich daran, was allerdings nur drei Monate funktionierte, dann kaufte Hubert seinen eigenen Laden namens „Power Color“. Er überlebte ein Krebsgeschwür am Hals, das entfernt und mit Strahlentherapie nachbehandelt wurde, aber seine Firma überlebte die zunehmende Digitalisierung der Druckprozesse nicht, also musste er Power Color im Jahr 2000 schließen. In den Büros hing die ganze Zeit sein guter alter Seitenwagen an der Wand.Den Kontakt mit der Welt hält Hubert über die moderne Digitaltechnik, mit deren Hilfe er mit Freunden und Famile in derart direktem Kontakt bleibt, dass jeder weiß, was der andere am entgegengesetzten Ende der Welt zu abend isst. Der wichtigste Kontaktpunkt ist dabei seine Website www.thetimelessride.com, auf der er von unterwegs seine aktuellen Erlebnisse nebst Bildern veröffentlicht. Hubert findet das „großartig“, denn: „Früher, 1971, war der einzige Kommunikationskanal nach Paris das Telefon, und das war zeitraubend, umständlich und sehr teuer.“ Als ihm in moderneren Zeiten einmal am Yukon das Getriebe unterwegs verreckte und weder BMW USA noch BMW Kanada das benötigte Teil hatten, rief er in die versammelte Internet-Runde nach Hilfe. In weniger als 24 Stunden hatte er das Teil sechsfach versandbereit versprochen: zweimal aus der Schweiz, einmal aus Holland, einmal aus Deutschland, zweimal aus den USA. In einem überglücklichen Dankesschreiben steht dann: „Was für eine großartige Welt! Es ist etwas ganz anderes, mit Internet zu verreisen.“ Das Internet ist damit auch die Chance für alle Reisefiebernden, mit Hubert in Kontakt zu treten. Oder Sie wählen die deutsche Variante und fahren gleich bei ihm vorbei: „Ich treffe sehr viele Leute aus Deutschland. Warum sind die Deutschen so viel am Reisen?“ Ich habe ihm (m)eine Antwort gegeben. Setzen Sie sich doch zu Hubert ans Lagerfeuer und geben Sie ihm Ihre. Was gibt es zu verlieren? „Don’t forget to take a risk today!“, ist jedenfalls Huberts Lebensmotto. Bilder: Hubert Kriegel Epilog Diesen Artikel habe ich 2010 für das MO-Spezial „Auf und davon“ geschrieben und dabei in Hubert einen getriebenen und gerade deswegen furchtbar sympathischen Menschen kennengelernt. Einige Zeit nach dem Artikel kam Hubert durch Deutschland und wurde von einem MO-Leser freudig begrüßt. Falls ihr ihn also mal wieder seht: Sagt ihm auch diesmal wieder Hallo. Die Gespräche mit Hubert waren teils recht persönlich, weil ich diese oberflächlichen Wischiwaschi-Interviews hasse. Irgendwann kamen wir darauf, dass Hubert rund um die Welt so viele Deutsche trifft. Die Exportweltmeister exportieren vor allem sich selbst. Warum? Mein Erklärungsvektor führte über die deutsche Seele und Quetschenpaua: „Weltschmerz ist das schönste der Gefühle.“ Und was ist Weltschmerz?, wollte Hubert wissen. Ich erklärte es ihm: „Weltschmerz is the pain the world makes when it touches your heart. And we Germans crave it.“
Quelle: Mojomag |
verfasst am 29.09.2011
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Mojomag