Lkw nerven – finden wohl die meisten Pkw-Fahrer. Auf der Autobahn blockieren sie mit ihren „Elefantenrennen“ den Verkehr, im Stadtverkehr werden sie zum rollenden Todesrisiko für Fußgänger oder Radfahrer. Ganz allgemein verpesten sie die Luft und lärmen - gängige Vorurteile. Aber: Gleichzeitig faszinieren die Brummis. Mit ihren gigantischen Motoren und mit ihrer urgewaltigen Kraft. Rollende Riesen aus dem Reich der Kinderphantasie. Mit einem davon, dem Mercedes Actros des Modelljahres 2017, waren wir unterwegs.
Lissabon – Pedro telefoniert. Er schlendert gestikulierend über den Fußgängerüberweg und achtet nicht auf den Verkehr. Das knallgelbe Ungetüm sieht er nicht kommen. Riesige, bedrohliche, kaum zu stoppende 40 Tonnen schieben auf Pedro zu. Naja, nicht ganz, der Actros ist nicht voll beladen. Außerdem sitzt am Steuer ein Profi-Fahrer von Mercedes. Pedro ist auch ein Profi.
Er macht das schon den ganzen Vormittag. Er läuft scheinbar selbstvergessen vor den Lkw. Oder er fährt mit dem Fahrrad rechts daneben, während der Truck zum Abbiegen ansetzt. Der typische Abbiegeunfall – eine der Hauptursachen bei Unfällen mit Fahrradbeteiligung. In 90 Prozent dieser Fälle werden Radfahrer und Fußgänger laut dem Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) schwer verletzt oder sterben. Trotzdem gab es bisher keinen Assistenten, der solche Unfälle verhindert.
Der Abbiegeassistent im Actros soll vor allem Abbiegeunfälle mit Fahrradfahrern und Fußgängern verhindern Quelle: Daimler
So viel vorweg: Es gibt ihn immer noch nicht. Den elektronischen Helfer, der stets zuverlässig Radfahrer oder Fußgänger erkennt und den Brummi sicher zum Stehen bringt, kann Mercedes noch nicht zeigen. Aber den ersten Abbiegeassistenten für Lkw und den ersten Notbremsassistenten mit Fußgängererkennung. Seit Ende vergangenen Jahres gibt es beides im Actros - vorher gab es solche Systeme laut Mercedes in keinem Lkw.
Mercedes Actros 2017 erkennt Fußgänger
Im Actros des Modelljahrs 2017 sitzen nun zwei Nahbereichs-Radarsensoren vor der Hinterachse des Schleppers. Sie überwachen einen 3,75 Meter breiten Bereich auf der Beifahrerseite. Die kompletten 18,75 Meter eines Standard-Sattelschleppers werden abgedeckt, zusätzlich zwei Meter vor und hinter dem Zug. Ein Frontradar erfasst zusätzlich den Bereich vor dem Fahrzeug und erkennt jetzt in der vierten Generation endlich auch Fußgänger wie Pedro.
Wir steigen zu und bringen Pedro, den Fahrradfahrer, ein weiteres Mal in Gefahr. Unser Profi-Fahrer hält auf einem Testgelände an einer aufgestellten roten Ampel. Sie springt von Rot auf Grün, wir rollen an. Plötzlich blinkt an der A-Säule ein gelbes Dreieck. Dann wird es rot, dazu piepst es im Stakkato. Kurz darauf leuchtet die rote Lampe greller, der Piepton wird zum Dauerton. Wer das nicht mitbekommt und versäumt zu bremsen, hat größere Probleme als leichte Überforderung mit der Abbiegesituation.
Autonom bremsen kann der Assistent noch nicht. Aber die Unfallforschung der Versicherer (UDV) schätzt: Das System kann gut 40 Prozent aller Abbiegeunfälle mit Fahrradfahrern und Fußgängern verhindern.
Zwei Radarsensoren vor der Hinterachse überwachen einen 3,75 Meter breiten Bereich neben dem Fahrzeug und schlagen Alarm, wenn ein Fußgänger, Fahrradfahrer oder ein festes Hindernis im Weg sind Quelle: Daimler
Der ADFC fordert schon seit Jahren, dass neue Lkw mit derartigen Assistenten ausgestattet werden. Aber 40-Tonner bewegen sich schließlich nicht schwerpunktmäßig im Stadtverkehr. Weshalb der Assistent vermutlich so spät kommt. Der Fokus liegt beim Lkw auf anderen Dingen, auf den Kosten zum Beispiel.
Zwei Maß Bier pro Zylinder im Actros
Nochmal im Führerhaus eines Actros 1845. Wir schieben über die Vasco da Gama Brücke in Lissabon. Unser Fahrer hat den Tempomat aktiviert. Der hält den Abstand zum Vordermann, koppelt den Strang ab, wenn der Lkw bergab rollt, segelt. Er macht alles, wie wir das aus dem Pkw gewohnt sind.
Unter uns rauschen 449 PS aus einem Sechszylinder-Reihenmotor. OM 471 heißt der Diesel, der jetzt in der zweiten Generation den Actros antreibt. In jeden Zylinder passen zwei Maß Bier und ein gut gefülltes Sektglas (12,8 l Hubraum). Bis zu 530 PS sind möglich, wichtiger ist aber das Drehmoment: 2.400 Newtonmeter stemmt der Klotz mit "Top-Torque"-Option maximal bei 1.100 U/min. Im Normalfall sind es 2.200 Newtonmeter, ab 750 Umdrehungen stehen 2.000 Newtonmeter an.
Große Zahlen, trotzdem sind Kleinigkeiten wichtig. Lkw mögen pro Tonne Gewicht Effizienz-Wunderwerke sein - im Vergleich zum Pkw. Verglichen mit der Bahn sind sie es keineswegs. Also zählt zum Beispiel die Kleinigkeit von 0,5 Prozent. So viel bringt eine clevere Ölversorgung der Hinterachse am Actros – 0,5 Prozent weniger Verbrauch auf der Standard-Messstrecke von Mercedes. Also Stuttgart–Hamburg–Stuttgart.
Als Autofahrer macht man sich über ein halbes Prozent kaum Gedanken. Es tut nicht weh im Portemonnaie wenn der alte VW Passat oder Fiat Punto mal ein bisschen mehr verbraucht. Und wenn doch? Tritt man eben weniger aufs Gas. Im Lkw geht das nur begrenzt. Zwischen 80 und 85 km/h spielt sich alles ab, bei sehr gleichmäßiger Fahrt.
Im Actros 1845 arbeitet ein 12,8 Liter großer Reihensechszylinder mit 449 PS und bis zu 2.400 Nm Drehmoment Quelle: Daimler
Pro Jahr 2.200 Liter Diesel gespart
Die 6,5 Prozent Ersparnis, die Mercedes mit dem neuen Motor insgesamt verspricht, sind für die Spediteure bares Geld wert. Einen Test an der Algarve hat der aktuelle Actros mit einem Durchschnittsverbrauch von 28,8 Litern pro 100 Kilometer bewältigt. Der Vorgänger brauchte parallel 30,5 Liter. Bei einer üblichen jährlichen Fahrleistung von 130.000 Kilometern ergibt das eine Differenz von rund 2.200 Litern Diesel. Schon für selbständige Ein-Mann-Unternehmer eine relevante Größe. Für Fuhrparks erst recht. Außerdem entspricht das einer CO2-Ersparnis von rund 6 Tonnen.
Geringer Verbrauch liegt nicht nur im wirtschaftlichen Interesse des Unternehmers, sondern auch im Interesse der Umwelt. Logisch. Die Transportleistungen auf der Straße steigen Jahr für Jahr. 2016 wurden in Deutschland insgesamt 4,6 Millarden Tonnen Güter transportiert, 3,6 Milliarden davon auf der Straße. Das waren 1,5 Prozent mehr als im Vorjahr. So wird es laut den Prognosen von Experten weitergehen.
Die Menschen bestellen eben gerne im Internet, und auf absehbare Zeit wird die Ware zum größten Teil über die Straße transportiert werden. Gut, wenn Lkw dabei ein wenig sicherer und sauberer werden.
Technische Daten Mercedes Actros 1845
- Motor: 12,8-Liter-Sechszylinder-Diesel, Turbo
- Leistung: 449 PS (330 kW) b. 1.600 U/min
- Drehmoment: 2.200 Nm b. 1.100 U/min (max. 2.400 Nm mit "Top Torque" im 12. Gang)
- Drehzahl bei 85 km/h: 1.162 U/min
- Steigfähigkeit: 2,2 Prozent b. 1.100 U/min (80,5 km/h)
- Verbrauch: ca. 30 l/100 km
- Tankvolumen Diesel: 390 l
- Tankvolumen Adblue: 60 l
- Länge: 5,86 m
- Breite: 2,50 m
- Höhe: 3,77 m
- Radstand: 3,70 m
- Gewicht: 7.360 kg
- zul. Gesamtgewicht: 18-40 t
Der Actros-Antriebsstrang 2. Generation im Detail
Neben der Antriebsachse mit variabler Ölversorgung hat Mercedes am neuen Actros auch den Motor OM 471 überarbeitet. Den Maßnahmen schreiben die Ingenieure 3 Prozent Ersparnis zu. Dazu gehört eine Common-Rail-Einspritzung mit 2.700 statt 2.100 bar. Außerdem wurden die Kolben geändert und die Verdichtung von 17,3:1 auf 18,5:1 angehoben.
Eine verringerte Abgasrückführung (AGR) erhöht den Wirkungsgrad des Motors. Der Turbolader ist neu, Nebenaggregate wie die Servopumpe oder die Lichtmaschine wurden optimiert. Die Schaltstrategie des 12-Gang-Getriebes konnte verändert werden, weil das nutzbare Drehzahlband größer wurde. Bislang lag das Drehmoment von 2.200 Newtonmetern zwischen 950 und 1.250 Umdrehungen an, jetzt zwischen 880 und 1.300 U/min. Heißt: Der Actros kann länger im höchsten Gang am Berg klettern, das Drehzahlniveau sinkt insgesamt.