VON TIMO FRIEDMANN Es gibt Menschen, die 1.963.500 Euro für ein Auto ausgeben. Wir kennen keinen. Aber wir kennen einen, der so ein Auto gefahren ist. MT im neuesten, schnellsten Roadster der Welt
Barcelona – Loris Bicocchi lächelt fast immer. Er ist Testfahrer, Anstands-Wauwau, Italiener und mein Beifahrer am heutigen Tag. Das Vertrauen der Bugatti-Menschen in einfache Leute wie mich ist begrenzter als der Leistungsschub des Wagens. Und so fahren wir mit entspannten 90 km/h über die Landstraße. Das Potentiometer des Autos zeigt, dass ich rund 100 PS abrufe, 1.100 weitere schlummern friedlich hinter mir. Herr Bicocchi passt auf, dass ich diese sorgfältig behandle. Wenige Menschen sind schnellere Autos gefahren als mein Beifahrer
Zwischen uns entwickelt sich folgender Dialog: MOTOR-TALK-Redakteur: „Als 16jähriger habe ich den Bugatti EB 110 mal in einer Zeitschrift gesehen. Was für ein Auto.“ Bicocchi:“Den habe ich damals entwickelt. Nach meiner Zeit bei Lamborghini.“ Redakteur: „Echt?“ Bicocchi: „Ja.“ Redakteur: „Auch noch irgendwelche anderen Supersportler?“ Bicocchi: „Ja.“ Redakteur: „Pagani Zonda?“ Bicocchi: „Ja:“ Redakteur: „Königsegg?“ Bicocchi: „Auch.“ Redakteur: „Den Veyron?“ Bicocchi: „Sowieso.“ Neugierig und neidisch schiele ich auf meinen Co-Piloten, der so viel mehr von Autos, Super-Sportwagen und Höchstgeschwindigkeit versteht als ich es je tun werde. Demut füllt mich aus. Sie wird das wesentlichste Gefühl des heutigen Tages werden. Der Bugatti Vitesse, das neueste und zugleich letzte Modell der Veyron-Familie, beschleunigt schneller als alle anderen Autos ohne Dach. Von 0 auf 100 km/h in 2,6 Sekunden. Von 0 auf 200 km/h in 7,1 Sekunden. Von 0 auf 300 km/h in 16,0 Sekunden. Noch beeindruckender: Von 0 auf 300 km/h und zurück auf 0 beschleunigt und verzögert der Wahnsinnswagen in 23,9 Sekunden. Man kann diese Werte mit nichts vergleichen, weil es nichts Vergleichbares auf Rädern gibt. Schon ein Ferrari Enzo braucht für den Sprint auf 300 km/h zehn Sekunden länger. Mut zum Träumen
Diese ungemeine Kraft raubt mir nicht den Mut, das nicht. Aber sie weckt Träume, eine Sehnsucht nach asphaltierten Plätzen, groß wie einige hundert Fußballfelder. Viel weniger darf es nicht sein bei 83 Metern, die der Wagen pro Sekunde zurücklegt. 111 Meter sind es bei Tempo 400. Pro Sekunde. Die 400-km/h-Grenze ist ein Mythos. Für mich und selbst für die allermeisten Bugatti-Fahrer wird sie es ewig bleiben. Später, auf einer Teststrecke in der Nähe von Barcelona, erreichen Herr Bicocchi, die Vitesse und ich 328 km/h. Etwas mehr wäre drin gewesen, aber nicht viel mehr. Das liegt nicht an meinem Mut. Sondern an den geraden zwischen den Steilkurven. Auf den 5 Kilometer langen Verbindungen ist mehr Tempo gefahrlos nicht möglich. Nirgends kann man schneller fahren als in Ehra-Lessien
25.000 Euro kostet es Bugatti-Besitzer, einmal kontrolliert die 400-km/h-Schallmauer zu durchbrechen. Keine 20 sollen diesen Service in Anspruch genommen habe. Dabei kann diese Geschwindigkeit in Europa nur in Ehra-Lessien, dem VW-Testgelände in der niedersächsischen Provinz erreicht werden. Keine andere Strecke bietet die zwingend notwendigen Gegebenheiten dafür. Glatter, perfekter Asphalt, 10 Kilometer gerade Strecke, kein anderer Verkehr. Einmal soll ein Tuner, ein Tempofanatiker, also jemand, der gern so schnell wie Bugatti wäre, auf der Döttinger Höhe des Nürburgring 402 Stundenkilometer erreicht haben. Aber das sei verrückt, sagt Loris Bicocchi. Dort sei die Strecke viel zu wellig, zu krumm, es gäbe zu viele Kanten im Asphalt. Und am Ende zu wenig Bremszonen. Auch auf dem italienischen Hochgeschwindigkeitskurs von Nardo sei so etwas unmöglich. Im 1. Gang über 100
Wir fahren wieder auf der Landstraße. Es ist einsam, lange, geschwungene Straßen liegen vor uns. Mein italienischer Begleiter ermutigt mich, mehr Gas zu geben. Das ist lustig. Denn ich gebe Gas. Nur sind wir immer innerhalb weniger Millisekunden an meinem persönlichen Grenzbereich. Der. 1. Gang reicht bis 104 km/h, der 3. fast für 200 km/h, im 5. schafft das Auto 313 Stundenkilometer. Diese unbändige Kraft, die extreme Bodenhaftung und das enorme Gewicht von 2 Tonnen (allein Motor und Getriebe wiegen 490 Kilogramm) verschieben die eigene Wahrnehmung. Ich fahre scheinbar mehr mit der Bremse (acht Kolben vorn, sechs hinten, pro Rad) als mit dem Gaspedal. Denn Kraft ist das dominierende Element. Ich bin nur da, um sie zu zügeln. Keine Wankneigung, kein Einnicken, kein Leistungsabriss der Vitesse deuten auf das hin, was ich tue. Sie folgt exakt genau meinen Befehlen. Unbändige Kraft reißt mich fort
Und dann, wenn die Straße sich öffnet und der Asphalt für einen Moment bis zum Horizont zu zeigen scheint, trete ich voll zu. In diesen Sekunden der phantastischsten Beschleunigung auf Erden höre ich nichts. In meinem Brustkorb wird die Luft von dem gewaltigen Schub zusammengepresst, meine Unterarme verkrampfen, mein Körper wird schneller fortgerissen als ich denken kann. Wer mit geschlossenem Fallschirm aus einem Flugzeug springt, beschleunigt langsamer als die Vitesse auf 200 km/h. Gerade cruise ich noch entspannt mit 60 km/h im vierten Gang durch Spanien. Ein Fauchen, ein Klacken später und ich fliege durch Zeit und Raum. Wobei das Auto eher fliegt und mein eigener, viel trägerer Körper, im Sitz festgepresst, mitgerissen wird. Der Wind schafft Bodenhaftung
Und immer wieder höre ich das laute Zischen des Überdruckventils. Es ist mein treuester akustischer Begleiter. Immer, wenn ich das Gaspedal lupfe, bläst es den überschüssigen Druck der Turbos in den Himmel über uns. Ohne Dach bleibt es bis 250, 260 km/h ansonsten völlig im offenen Cockpit. Die Höchstgeschwindigkeit wird aus aerodynamischen Gründen auf 375 km/h begrenzt. Diese Aerodynamik ist eines der vielen Wunderwerke des Wagens. Im Standard-Programm liegt die Vitesse 115 Millimeter über dem Asphalt. Im Handling-Modus senkt sich die Front auf 80, das Heck auf 95 Millimeter ab. Das geht ab 180 km/h automatisch und bleibt bis 375 km/h. Darüber wird der Top-Speed aktiv. Dann duckt sich die Front auf 65 Millimeter ab, das Heck auf 70. Der gewaltige Flügel reduziert den Abtrieb und ein neuer Diffusor im Heck soll den Auftrieb vermindern. 15 Minuten könnte man ununterbrochen Vollgas geben. Theoretisch wären dann die Reifen runter. Soweit kommt es nie. Denn der 100-Liter-Tank reicht nur für 12 Minuten Vollgas. Die Vitesse schluckt weniger als der Veyron
Dennoch gibt es gute Nachricht für alle Blumenfreunde. Der 1.200-PS-Bugatti fährt sich sparsamer als je zuvor. Um 8 Prozent oder 1,8 Liter konnte der Verbrauch reduziert werden. Innerorts trinkt der W16-Motor 37,2 Liter, im Mix sind es 23,1 Liter Super. Vieles wurde im Detail an diesem Auto überarbeitet. Die Bremsen bekommen jetzt mehr Luft zur Kühlung, vier statt zwei Benzinpumpen sorgen dafür, dass der Treibstoff schnell genug verbrannt werden kann. Die Verzahnung des 7-Gang- Doppelkupplungsgetriebes (DSG) wurde optimiert, die Turbolader schaufeln mehr Luft in die Brennräume. Trotzdem ist der Unterschied zwischen 1.001 und 1.200 PS nicht erfahrbar. Selbst vom verbesserten Drehmoment (1.500 Nm statt 1.250 Nm) spüre ich nichts. Die Beschleunigungswerte sind unverändert, die Spitzengeschwindigkeit von 410 km/h marginal höher. Das 1.200-PS-Coupé, der Super Sport, erreicht ein deutlich höheres Tempo. Er hat aber anstatt der beiden Lufthutzen über den Sitzen einen High-Tech-Luftansauger, der weniger Luftwiderstand ermöglicht. Das Ende
Nach vier Stunden endet meine Zeit in diesem Gefährt. 1.963.500 Euro kostet der Roadster mindestens, Sonderwünsche nicht mit eingerechnet. Dafür gibt es keinen Cupholder, keinen Spurhalteassistent, keinen Aufmerksamkeitswarner. Wohl aber das perfekteste Kunstwerk, das Ingenieure je erschaffen haben.
Modell: Bugatti Veyron 16.4 Grand Sport Vitesse, Vollkarbon-Karosserie Motor: 8,0-Liter-W16-Zylinder Antrieb: permanenter Allrad Getriebe: 7-Gang-DSG Leistung: 1.200 PS Verbrauch: 23,1 Liter CO2: 539 g/km 0 – 100 km/h: 2,6 Sekunden 0 – 200 km/h: 7,3 Sekunden 0 – 300 km/h: 16 Sekunden Höchstgeschwindigkeit: 410 km/h, offen 375 km/h Länge x Breite x Höhe: 4,46 Meter x 2,0 Meter x 1,20 Meter Kofferraum: - Preis: 1.963.500 Euro Gewicht: 1990 Kilo Tankinhalt: 100 Liter Anmerkung des Autors: Für die Fahrten auf der Landstraße und auf der Teststrecke standen uns zwei unterschiedliche Fahrzeuge zur Verfügung. MOTOR-TALK durfte den Wagen im Rahmen einer Pressevorführung fahren.
Quelle: MOTOR-TALK |
verfasst am 11.06.2012
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