Er wurde geliebt und gehasst, war das perfekte Auto und die Definition von Biederkeit: Der Golf 1 wird heute 40 Jahre alt. Wir blicken zurück auf seine Geschichte.
Quelle: Christoph Michaelis für MOTOR-TALK, koya79 - istockphoto.com Von MOTOR-TALK Reporter Fabian Hoberg Wolfsburg – Die Klappe macht den Unterschied: Eckig, groß, mit einer breiten Scheibe. Die Dämpfer zischen leise, wenn sie öffnet. Dahinter ein Kofferraum. Im Heck. Wahnsinn! Heute gähnen wir über die Aufregung von damals. Aber als am 29. März 1974 der erste Golf von den Bändern lief, war das nicht nur in Niedersachsen eine Sensation. Golf 1: Frontantrieb statt HeckmotorBis dahin galt nämlich für die Massenmotorisierung vorwiegend das Gesetzt des Heckmotors – zumindest bei VW. Der Kofferraum lag dementsprechend vorn. Nun ist alles anders: Der Motor sitzt quer auf der Vorderachse und treibt auch noch die Vorderräder an. Rund 30 Jahre nach der Einführung des Käfers gleicht das einer Blasphemie. Quelle: Christoph Michaelis für MOTOR-TALK 8000 Mark kostet die Basisversion des Golf 1, also gut 500 Mark mehr als ein 1303. Aber die Kundschaft hält die Käfer-Technik für angestaubt. Luftgekühlte Autos werden kaum noch akzeptiert. Die Produktpalette ist veraltet. Der Golf lässt den Käfer aber nicht nur technisch alt aussehen. Statt ausgestellten Kotflügeln, winzigen Scheiben und Rubens-Rundungen herrscht in der norddeutschen Ebene nun italienischer Schick. Entworfen von Giorgio Giugiaro zieren den Golf gerade Linien und viele Kanten. Und eine breite C-Säule – ein Stilelement, das noch Gültigkeit hat. Außen kurz, innen riesigDer Golf I wirkt heute noch modern, trotz des muffigen 70er-Jahre-Geruchs. Wie Mottenkugeln in einem Bungalow. Das Platzangebot ist im Vergleich zum Käfer Turnhallen-ähnlich, die Variabilität mit der umlegbaren Rückbank geht schon Richtung Kombi. Im Viertürer können die Fond-Passagiere sogar bequem einsteigen. Das kannten Käfer-Kunden bisher nicht. Der Platz setzt in der Kompaktklasse (die damals noch nicht so hieß) Maßstäbe. Dazu kommen bequeme Sitze ohne Seitenhalt und viel Platz auf der Sitzbank. Quelle: Christoph Michaelis für MOTOR-TALK Ebenso modern wirkt das Cockpit. Die Bedienung gelingt intuitiv, wenige Schalter sind logisch angeordnet. Große Fenster helfen beim Rangieren – eigentlich unnötig bei 3,70 Metern Länge und Legostein-Form. Heute würde der Golf 1 zu den Kleinwagen zählen – selbst der Polo misst 3,97 Meter. Golf 1: Wendig, übersichtlich und leichtIn der Stadt zirkelt der Golf durch den Verkehr, ist wendig und lässt sich problemlos einparken. Der Wolfsburger wiegt nur rund 800 Kilogramm und bietet ein modernes Fahrwerk: vorne McPherson Federbein und Dreieckslenker, hinten einen Verbundlenkerachse mit Längslenker, Schraubenfeder und Teleskopstoßdämpfer. In den ersten Jahren bremst er allerdings mit vier Trommelbremsen. Das dünne Lenkrad und der noch dünnere Blinkerhebel liegen irgendwie vertraut in der Hand. Auch wenn die heute siebte Generation mit dem Urahnen nur noch den Namen gemein hat – man spürt die Wurzeln. Statt eines aufgesetzten Rundtachos hat der Golf ein ganzes Cockpit – wie damals die großen. Das ist in der Standardausstattung zwar gähnend leer, bietet aber Platz für Drehzahlmesser und Temperaturanzeige für das Kühlwasser. Unglaublich: Damit soll ein Käfer-Fahrer mal mit klar kommen. Quelle: Christoph Michaelis für MOTOR-TALK Sparsamkeit zum perfekten ZeitpunktVW muss den Umbruch geahnt haben. Die 70er-Jahre haben es in sich: Die Baader-Meinhof-Gruppe schießt sich durchs Land, die Opec dreht den Ölhahn zu und die 68er-Generation verlangt einen Umdenken in der Gesellschaft. Das neue Brot-und-Butter-Auto wird der Hoffnungsträger des Unternehmens und soll den Weg raus aus der Heckschleuder-Falle finden. Heinrich Nordhoffs Nachfolger Kurt Lotz ebnete den Weg zu dem neuen Konzept mit wassergekühlten Motoren und Frontantrieb. VW ist damit spät dran. Andere Marken wie Fiat, Renault, Simca und Peugeot bieten schon seit ein paar Jahren Modelle mit Frontantrieb an. Ford und Opel setzen auf Frontmotor und Hinterradantrieb. Dass der Weg zur radikalen Produkt- und Firmenumstrukturierung mühsam war, sieht man an den vielen Versuchsfahrzeugen. Etwa sechs Jahre und viele Prototypen tüftelten die Ingenieure in Wolfsburg am Käfer-Nachfolger. Fast alle Versuchsträger landeten nach den Quälereien in der Presse. Nur wenige überleben. Unter anderem die beiden Entwicklungsaufträge (EA) 266 und 276. EA266: Piëch greift danebenQuelle: Christoph Michaelis für MOTOR-TALK Was Ferdinand Piëch anfasst, das wird zu Gold. Beim grünen EA266 von 1969 hat der VW-Patriarch aber ordentlich danebengegriffen. Porsche sollte für VW einen Versuchsträger bauen. Sportlich, komfortabel, fahrsicher, geräumig und kompakt musste er sein. Der junge Piëch dachte vor allem an Leistung und pflanzte einen wassergekühlten 1,6-Liter-Unterflur-Mittelmotor mit 100 PS in die kleine Hütte. Der Prototyp soll 189 Sachen gelaufen sein. Kühler und Ansaugtrakt liegen allerdings im Staubsog, so dass häufige Schäden vorprogrammiert waren. Für Wartungsarbeiten und Reparaturen müssten Motor und Getriebe ausgebaut werden, trotz der großen Bodenfreiheit. Der Vorstand soll nicht begeistert gewesen sein und stoppte das Projekt 1971. Golf-Prototyp aus Wolfsburg: EA 276Quelle: Christoph Michaelis für MOTOR-TALK Ungefähr zeitgleich ist mit dem EA276 eine VW-Lösung fertig. Beim Versuchsträger sitzt der Motor nun unter der vorderen Haube. Ein umgedrehter Käfer-Boxer mit 1,5 Litern Hubraum und 44 PS – immerhin treibt er die Vorderräder an. Das Design mit der großen Heckklappe und der breiten C-Säule gibt 1969 eine Vorahnung auf die Serie. Dazu kommen die Verbundlenkerachse und ein Tank unter der Rücksitzbank. Im Innenraum lebt noch die Tristesse der 60er – nackter Kunststoff, ein aufgesetzter Tacho und lieblos vernähte Polster. Bis zum Serienfahrzeug vergehen noch ein paar Jahre, aber die Richtung stimmt schon mal. Der Vorstand setzt die Ampel auf Grün, will aber noch einen modernen und sparsamen Motor integriert haben. Fündig wird man beim Audi 80 und seinem Ableger VW Passat. Mit neuen Motorhaltern werden die Vierzylinder zu Quermotoren. Der nächste Prototyp EA337 ist schon nah am Serienfahrzeug – und das wird zum Erfolg. Gut zwei Jahre nach der Markteinführung – im Oktober 1976 – feiert VW den einmillionsten Golf. Bis zur Ablöse durch den Golf 2 1983 baut VW 6,24 Millionen Fahrzeuge. Den Käfer kann er allerdings noch nicht überbieten. Denn der läuft und läuft und läuft – mit antiquierter Technik, aber bis 2003. Zum Weiterlesen: Big-Picture-Galerie zum Bildband "Volkswagen Raritäten" Quelle: MOTOR-TALK |