Der Baker Electric begeisterte schon Thomas Alva Edison. Das erste Exemplar wurde an den weltberühmten Erfinder ausgeliefert. 106 Jahre später fährt der Designer Hans A. Muth den Baker Electric 1904 - und vergleicht ihn mit seinem E-Mobil-Konzept. Muth ist seit Jahrzehnten für die internationale Auto- und Motorradindustrie tätig. Die Suche galt weder einer Stauferburg noch einer zünftigen Besenwirtschaft im Remstal: Die Suche galt einem amerikanischen Schneewittchen namens Miss Baker, geboren 1904 in Cleveland, Ohio. Die war nach einigen Jahren in einem englischen Museum und einem Ausflug von London nach Brighton von einem württembergischen Prinzen, Konsul Hermann Walter Sieger, nach Lorch auf den Venusberg geholt worden. Dort parkt der Baker Electric 1904. Baker Electric 1904 ist 18 bis 22 km/h schnell Der gläserne Sarg des Märchens wich nun einer großzügigen Halle, die Sieben Zwerge einer ungezählten Schar von zwei- und vierrädrigem Hochadel. Der Kuss zum elektrisierten Erwachen kommt von einem pfropfenförmigen "Plug". Miss Baker heißt korrekt Baker Electric 1904, ein E-Mobil der Firma Baker Motor Vehicle Co. Ihre Chassisnummer ist 1010, ihre Garderobe ein kniefreies, dunkelweinrotes Phaeton-Kleid vom Automobil-Couturier Stanhope, ein Sonnenschirm aus schwarzem Leder und hellbraune Highheels. Mit zwei eingeladenen Personen schafft der Baker Electric 1904 mit seinem 24-Volt-Temperament mit 18 bis 22 km/h eine Strecke von 100 Kilometern ohne "Schminkpause", wohinter sich das Laden der Baker Electric 1904-Batterie verbirgt. Verwöhnt von klassisch-automobiler Formenwelt, steht man zunächst verdutzt vor dem Baker Electric 1904 - einer Kutsche ohne Deichsel, weder Knecht noch Pferd ringsum. Genau dieses aber entsprach dem damaligen Mobilitätsverständnis: eine Stadtfahrt in einer Kutsche ohne die langen und aufwendigen Prozeduren der Pferde-Pflege und -Verpflegung, des An- und Ausspannens, ohne Kot und den Geruch, und nicht zuletzt ohne die Eigenwilligkeiten von Ross und Knecht. Das es beim Erfüllen dieser Wünsche zum Austausch des Pferdes durch einen Elektromotor kam, ist zudem auch mit der Bedeutung der damaligen Elektrizitätseuphorie zu erklären. Thomas Alva Edison bekam den ersten Baker Electric 1904 Bemerkenswert bei dem hier vorgestellten Baker Electric 1904: Der Elektro-Pionier Thomas Alva Edison war von deren "engineering- features" so beeindruckt, dass er das erste serienmäßig hergestellte E-Mobil der Baker Company spontan kaufte. Die Batterien des Baker Electric 1904 ersetzten den Hafersack der Pferdekutschen, und nun konnte man nach der Formel "Safe - Silent - Simple" ganz entspannt, einfach, elegant und souverän seinen urbanen Mobilitätswünschen frönen. Der Autor erfuhr dieses im doppelten Sinne, als er auf den noch im Originalzustand befindlichen Ledersitzen des Baker Electric 1904 Platz nahm, den Starter-Plug in der Sitzstirnwand einsetzte, die fußbetätigte Feststell- bremse löste, mit der rechten Hand den Lenkbügel, Tiller genannt, umfasste und mit der Linken den Fahrhebel über drei Stufen nach vorn bewegte. Nur die Abrollgeräusche der 30 x 3-Reifen des Baker Electric 1904 geben Kenntnis von der Fahrtaufnahme. Die Simplizität der Bedienung, die hohe Sitzposition mit totalem Überblick sowie die Gesamtauslegung für den spezifischen Gebrauch, nämlich den Kurzstreckenverkehr, ist faszinierend und schafft eine verblüffende Analogie zur aktuellen Wiederentdeckung der E-Motorisierung nach langem Schlaf - was den Schneewittchen-Bezug eingangs betrifft. Doch davon später. Die Goldenen Jahre der Elektroautos Die Amerikaner fanden generell die ersten Automobile laut und langweilig. Die, die keines besaßen, waren voller Vorurteile gegen die, welche bereits eines in der Garage oder vor dem Haus hatten. Einer dieser Kritiker war George C. Clausen, Commissioner des Central Parks in New York. Der verbannte im Jahr 1899 kategorisch Automobile aus dem Park, bis ein Gentleman namens R. A. C. Smith ihn zu einer Fahrt in seinem Automobil überreden konnte. Clausen war so beeindruckt, dass er Mr. Smith erlaubte, weiterhin im Park zu kutschieren. Ein Jahr später war es die erst 17-jährige Miss Florence C. Woods, die als erste weibliche Automobilistin die Erlaubnis zur Fahrt im Park erhielt. Die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts waren die Goldene Zeit der Elektro-Mobile. Zum Jahrhundertwechsel wurden 38 Prozent aller Autos in den USA elektrisch angetrieben, und bis 1904 übertrafen sie im Verkauf die durch Benzin angetriebenen Modelle. In diesem Jahr erschien der Baker Electric 1904. Durch die begrenzte Batterieleistung war der Einsatz hauptsächlich auf Städte und urbanes Umfeld ausgerichtet. Da drei Viertel der amerikanischen Nation vor dem Ersten Weltkrieg nur mangelhaft mit Strom versorgt wurden, konnte man nur in den Städten mittels Nachtstrom seine E-Mobil-Batterien regelmäßig laden. Elektro-Mobile wie der Baker Electric 1904 waren leicht zu starten und zu fahren, und sie waren in jeder Hinsicht sauber im Gegensatz zum Benzin-Motorwagen, welcher per Hand mühsam angekurbelt werden musste. Elektro-Starter setzten sich erst ab 1920 durch. Elektro-Mobile waren dagegen die überwältigenden Favoriten unter allen Fahrzeugen, die auf der New Yorker Auto Show von 1901 zu sehen waren. Erstes Elektro-Mobil von 1839, Geschwindigkeitsrekord von 1899 In diesen Jahren befanden sich 2.370 Elektro-Mobile auf den Straßen der großen Städte wie New York und Chicago. Das allererste Elektro-Mobil wurde von Robert Anderson 1839 in Aberdeen konstruiert, ein primitives Fahrzeug, das den Dampfmobilen, die seit 1825 in England fuhren, keine Konkurrenz machte. Es folgte ein Elektro-Mobil von Sir David Salmons, mit einem auserst leichten E-Motor, der jedoch durch das hohe Gewicht der Batterien keine überzeugenden Fahrleistungen erbrachte. Es dauerte bis zum Jahr 1886, bis in England ein praktikables E-Mobil in Form eines Taxis angeboten wurde. Eine mit 28 Zellen bestückte Batterie und ein kleiner E-Motor brachten es auf eine Geschwindigkeit von 8 Meilen pro Stunde. 1893 präsentierte der junge Student Walter C. Baker sein selbstgebautes Electro Automobile auf der World Columbian Exposition in Chicago, das erste einem Weltpublikum je präsentierte E-Automobil. Es folgte 1898 die Gründung der Baker Vehicle Company in Cleveland, Ohio, und die zeigte auf der ersten Automobile Show im Madison Square Garden ein per Kardanwelle angetriebenes E-Mobil. Am 29. April 1899 bricht der Belgier Camille Jenatzy nahe Paris mit seiner auf einem Leiterrahmen montierten "Aero-Zigarre" namens "La jamais contente" mit 105,88 km/h die Tempo-100-Schwelle - mit Elektroantrieb. Inspiriert und herausgefordert durch europäischen Rekordwillen, schuf Baker das erste völlig geschlossene und aerodynamisch korrekte Stromlinienfahrzeug. Die erreichten 85 Meilen pro Stunde wurden jedoch nicht offiziell bekundet, weil die Rekordjagd durch eine auf der Strecke flanierende Zuschauermenge jäh beendet wurde durch eine Vollbremsung, bei der ein Rad blockierte. Nicht nur die funktionale Eleganz des Rekordfahrzeugs stand im krassen Gegensatz zur damaligen Kutschenform, sondern auch das Konzept eines Kurzstrecken E-Mobils ließ Walter C. Baker unbewusst zum Vordenker werden. Die Ähnlichkeit seiner Entwürfe wie dem des Baker Electric 1904 zu den späteren Renn- und Rekordfahrzeugen der Firmen Auto-Union und Mercedes-Benz ist frappierend. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommt das E-Auto wieder Die vorletzte und die aktuelle Jahrhundertwende zeigen beide ein intensives Beschäftigen mit dem E-Antrieb. Ging anfangs des 20. Jahrhunderts der E-Antrieb zugunsten des Benzinmotors dem Ende als Antriebskraft für Automobile entgegen, so stellt der E-Motor zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Sache wieder auf den Kopf. E-Antriebe jeder Form oder Kombination sind fester Bestandteil in der künftigen Mobilitätsbewältigung von Automobilen - in welcher Art und Form sich diese auch darstellen. Die kleine, leichte und elegante Miss Baker, der Baker Electric 1904, inspiriert in ihrer Simplizität und lädt zu einer Konzeptprojektion ein, wobei heute den drei S des Elektro-Pioniers Baker - "Safe - Silent - Simple" - drei weitere Kodierungen hinzugefügt werden sollten: drei E für "Effizienz - Emotion - Energie". Die Konzeptstudie Shelly ist ein solcher Versuch, die Ingredienzen von Walter C. Baker mit den modernen Anforderungen an ein durch E-Motor und Batterie betriebenes Kurzstreckenfahrzeug zu vereinen. Leicht soll es sein und sicher, freie und individuelle Mobilität soll es bieten samt einem breiten Nutzungsspektrum, und auch der Preis darf nicht utopisch hoch liegen. Modular im Aufbau, bietet sich die Konzeptstudie Shelly zum Schaffen einer spezifischen Produktpalette an, die in der Optik frei ist von historischen Prestige- und Imagezwängen. Selbstbewusst, frech, frei und dem Zeitgeist entsprechend. Miss Baker oder das Schneewittchen vom Venusberg (der ist übrigens die tatsächliche Anschrift des Besitzers in Lorch) lädt nicht nur zu neuerlichen Erweckungsküssen ein. Der Venusberg hält auch noch mehr bereit, etwa die Posaunen von Maranello in Form eines Ferrari 212 Inter. Aber das ist eine neue Geschichte.
Quelle: Motor Klassik |
verfasst am 20.01.2011
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