Der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 debütierte im März 1968 auf dem Genfer Automobilsalon. Seine Referenzen: ein weinfassartiger Hubraum von 6.332 Kubikzentimetern, ein Drehmoment zum Weinberge versetzen und zu guter Letzt sein dumpf schlürfender Sound. Der Sound des Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 war zugleich ein dezenter Hinweis auf seinen Durst. Denn der deklassiert bei eiliger Fahrweise mit über 25 Litern auf 100 Kilometern jeden gut trainierten Weinliebhaber. Der Mercedes 600-Motor katapultiert den Mercedes 300 SEL nach vorne Mehr als vierzig Jahre ist es schon her, dass Entwicklungsingenieur Erich Waxenberger und seine Kollegen bei Mercedes-Benz die bis dahin regierende Zurückhaltung fahren ließen: Sie transplantierten den monströsen V8-Motor mit 6,3 Liter Hubraum aus der Staatslimousine Mercedes 600 in die viel schlankere S-Klasse. Und schufen den Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 - die schnellste Serienlimousine der Welt. Eine Großtat des gepflegten Wahnsinns - mitten im vernünftigen Schwabenland. Der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 debütierte offiziell im März 1968 in Genf, das Jubiläum drängt also. Sehr praktisch ist es deshalb, dass sich der Wagen auch heute noch wie ein fliegender Champagnerkorken über die Autobahn Richtung Frankreich treiben lässt. Vollgas bei 130 km/h ist ein erstaunliches Schauspiel: Die Viergangautomatik mit hydraulischer Kupplung kickt ruppig down, der Motor wechselt schlagartig seinen Ton von brummelnd in brüllend, und mehr als vierzig Jahre altes Leder drückt unbarmherzig von hinten gegen die Bandscheiben. Ab 170 km/h dann verstummt auch das letzte Gespräch über Flaschengärung, Dosage und andere Feinheiten der Champagnerproduktion: Die Windgeräusche im Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 werden zu Wirbelsturmgeräuschen. Sie singen das Lied von Chromkanten, unverkleideten Scheibenwischern, massiven Dachrinnen. Nicht so schlimm, dem Fahrer ist jetzt ohnehin nicht mehr nach Geplänkel zumute. Erstbesitzer produzierte Strumpfhosen und wollte 70 Zusatz-PS Denn er muss die nervösen 1,8 Tonnen schwäbischer Schwerstbauweise des Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 permanent im Kurs korrigieren - mit einem Lenkrad, dessen gefühlter Durchmesser zwei Meter beträgt. Dennoch saugt die leere Autobahn den Altmercedes für ein paar Augenblicke auf absurde 235 km/h. Das ist natürlich vollkommen unverträglich für das Weltklima, in erster Linie aber satte 15 km/h schneller als ein Serienmodell. Schließlich handelt es sich hier um ein Exemplar des Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 mit zeitgenössischem Tuning und unbescheidenen 320 PS. Für den Erstbesitzer des rasenden Wohnzimmers, einen Allgäuer Fabrikanten für Damenfeinstrümpfe der Marke "Ergee", waren die serienmäßigen 250 Pferdestärken wohl zu damenhaft gewesen. Und so hatte er sich Anfang der 70er Jahre an eine junge Motorenschmiede in Großaspach gewendet, um die schnellste Serienlimousine zur allerallerschnellsten machen zu lassen. AMG hieß der Laden - in jenen Zeiten war er noch weit davon entfernt, als konzerneigene Premiummarke zu dienen. In Stuttgart- Untertürkheim wurde Aufrecht kaum ernst genommen, man belustigte sich sogar über die Schraubertruppe. In internen Vermerken wurde jedenfalls ausführlich über deren bescheidene Räumlichkeiten und die angeblich mangelhafte Werkzeugausrüstung gelästert. Klassisches Tuning bei AMG Doch der Schein trog, denn mit Motoren kannten sich die AMG-ler schon damals aus. Gut für den Mercedes-Benz 300 SEL 6.3, mit einer Literleistung von gelangweilten 39,5 PS/Liter war die Maschine noch lange nicht am Ende ihrer Möglichkeiten - polierte Ansaugkanäle, feingewuchtete Pleuel, scharfe Nockenwellen, Rennkolben. So schufen Hans-Werner Aufrecht und seine Männer ein herrlich unvernünftiges Stück deutschen Maschinenbaus, das sie offenbar auch selbst beeindruckte: Noch heute kann sich Aufrecht an Details wie den Zündwinkel oder den Wärmewert der Kerzen erinnern. Stolz ließ er die inzwischen berühmten drei Buchstaben auf den beiden scharf gemachten Nockenwellen einschlagen. Scheinbar von Hand, dem etwas krummen Schriftbild nach zu urteilen. Krumm hin oder her: Das frühe Bekenntnis zur Leistungsgesellschaft ist mit einem leichten Zucken am Gaspedal im Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 auch heute noch jederzeit abrufbar. Das mit Leder und Holz verzierte Clubzimmer verwandelt sich dann in kürzester Zeit in einen schwülen Trainingsraum. Die Abwärme aus dem viel zu engen Motorstübchen ist der eines mittelgroßen Kernreaktors durchaus ebenbürtig. Und so sind wir fast froh, dass uns der horrende Verbrauch des Silberlings trotz eines 105 Liter großen Tanks zu einem Zwischenstopp zwingt. Überhaupt: Spätestens an der französischen Grenze gerät die Naturgewalt dieses Motors in den Hintergrund. Ab jetzt gleiten wir imMercedes-Benz 300 SEL 6.3 am Tempolimit entlang über herrlich krumme Landstraßen. Wir lassen leisen Clubjazz dudeln und dazu das Leder gepflegt knarzen. Und siehe da: Der vermeintliche Tyrannosaurus Rex kann auch ganz friedlich sein. Zufrieden schmatzt der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 die malerischen Landstraßen der Vogesen auf und übt sich in französisch-entspannter Gangart. Erst als sich hinter Bar-le-Duc wieder leere und schnurgerade Asphaltbänder durch die großen Kornfelder Frankreichs fräsen, hört man leichtes Aufatmen aus dem Motorraum des Mercedes-Benz 300 SEL 6.3. Noch einmal eine Gelegenheit für die mechanische Achtstempel-Einspritzpumpe der Firma Bosch, ordentlich auszuschenken. Die Lässigkeit des Drehmoments erzieht zum Gleiten So brutal der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 auch sein kann, er erzieht uns subtil und unmerklich zu einem entspannteren Reisetempo. Schon im Prospekt zog Mercedes beim Innenraum Parallelen zu einem englischen Club. Mit Bedacht wurde sicher auch vom Zigarrenanzünder, nicht vom Zigarettenanzünder gesprochen. Vor allem aber ist es die Lässigkeit des endlosen Drehmoments, die sich unaufhaltsam auf den Fahrer überträgt. Kurz vor Mitternacht brummelt der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 mit gemächlichen 150 km/h über die letzten Kilometer der heimatlichen Autobahn. Wir können uns für den Rest der Fahrt gemütlich zurücklehnen. Wie schrieb Mercedes schon damals im Prospekt? "Der 300 SEL 6.3 gibt jene entscheidende Ruhe, Übersicht und Gelassenheit, auf die Fahrer in Zukunft nicht mehr verzichten können." Quelle: Motor Klassik |
verfasst am 28.01.2011
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