In englischen Brackley arbeiten insgesamt 450 Menschen, um zwei Mercedes-Formel 1-Autos zu bauen. Wir haben uns in der Silberpfeil-Fabrik umgeschaut und sagen Ihnen, warum solch ein großer Aufwand betrieben werden muss. Zwölf Kilometer entfernt vom der Rennstrecke in Silverstone liegt das 13.000-Einwohner-Nest Brackley. Viel los wäre hier in der Grafschaft Northamptonshire eigentlich nicht. Wenig Industrie, kaum besiedelt, dafür umso mehr Countryside. Es grenzt fast schon Ironie, dass in diesem verschlafenen Teil im Herzen Englands die schnellsten Autos der Welt gebaut werden. Mit McLaren, Renault, Williams, Red Bull, Force India und Mercedes operieren gleich fünf große Rennställe in einem 100-Meilen-Radius nordwestlich von London. Nachdem sich Honda Ende 2008 aus dem Formel 1-Geschäft verabschiedet hatte und Ross Brawn das Team mit dem Weltmeistertitel 2009 fulminant rettete, kleben mittlerweile die Mercedes-Logos auf den Fassaden der Fabrik in Brackley. Die weiß-gelben Schilder von Brawn GP wurden gegen silberne ausgetauscht, im Foyer steht nun der Mercedes GP W01 aus der ersten Saison 2010. Neu an Bord ist auch Bob Bell. Der Brite kam Anfang des Jahres aus der Renault-Fabrik im 30 Kilometer entfernten Enstone rüber zum neuen "deutschen" Werksteam. Am Rande des Grand Prix-Wochenendes von Silverstone nahm sich der frischgebackene Technik-Direktor Zeit für eine kleine Delegation deutschsprachiger Journalisten, um den Kontinentaleuropäern zu erklären, wie man ein Formel 1-Auto baut. Designabteilung verwandelt Ideen in Bauteile Nach einem kurzen Treppenaufstieg beginnt der Rundgang auf einer kleinen Baustelle. Im ersten Stock des Hauptgebäudes wird gerade renoviert. Hier ist normalerweise auch Ross Brawn zuhause. Doch der Teamchef muss sich gerade um sein Team an der Strecke kümmern. Am Ende des Flurs geht es durch eine breite Tür. Dahinter wartet das Herz der Fabrik - die so genannte Designabteilung. In dem riesigen Großraumbüro sitzen die kreativen Köpfe der Firma. "Hier werden Ideen in Baupläne umgewandelt", erklärt Bell, der den Großteil des Design-Offices unter seinen Fittichen hat. Auf den Bildschirmen der Mitarbeiter sind technische Zeichenprogramme zu erkennen, auf denen Bauteile in 3D-Ansicht herumgewirbelt werden. Als Inspiration für die Ingenieure steht direkt hinter dem Eingang ein silber umlackierter Honda RA108, mit dem Jenson Button und Rubens Barrichello in der Saison 2008 meist erfolglos um WM-Punkte gekämpft haben. Direkt um die Ecke werden nach den Plänen der Ingenieure dann die zuvor designten Teile hergestellt. "Machine Shop" nennen die Engländer die Abteilung, in der plumpe Metallblöcke in filigrane Bauteile verwandelt werden. Riesige Fräsen und Wasserstrahlschneider stellen kleine Kunstwerke wie z.B. Pumpen oder Kühlsysteme her, bei denen die Toleranzen deutlich kleiner als ein menschliches Haar sind. Extremer Leichtbau für viel Ballast Bei allen Bauteilen spielt das Gewicht eine große Rolle. Geradezu fanatisch versuchen die Ingenieure jedes Gramm Material einzusparen. Doch dann holt Bell einen eckigen Klumpen Metall aus einer Ausstellungsvitrine. "Wir machen das Auto so leicht, um so viel wie möglich hiervon unterzubringen", erklärt der Ingenieur während er dem auto motor und sport-Reporter das unförmige Teil in die Hand drückt. Dessen Arme sacken plötzlich Richtung Boden. "Das ist Wolfram", grinst der Ingenieur. Das seltene Metall besitzt eine höhere Dichte als Blei oder Gold und wird als Ballast möglichst tief im Auto untergebracht, um das Mindestgewicht von 640 Kilogramm (inklusive Fahrer) zu erreichen. Mit der Verteilung im Heck oder an der Front können die Ingenieure die Balance des Autos austarieren. Nach der Metallverarbeitung geht der Rundgang weiter in den Composite Shop. Hinter einer Tür mit einem Glasfenster verrichtet eine computergesteuerte Maschine ihr Werk. Aus einer großen Rolle Kohlefaser-Lagen werden ähnlich wie bei Omas-Strickmuster einzelne Teile ausgeschnitten und direkt mit den passenden Labels beklebt. Dabei passen die Ingenieure auf, dass möglichst wenig Abfall des teuren Carbon-Stoffs entsteht. "Die Reste gehen zum Recycling zurück an den Hersteller", erklärt Bell. "Wenn wir viel davon zurückschicken, bekommen wir beim nächsten Mal eine Rolle gratis." Und was passiert mit den Teilen, die Ihren Einsatz hinter sich haben und nicht mehr gebraucht werden? "Daraus bauen wir Replica-Autos", verrät Bell. "Sie geben auch gute Souvenirs für unsere Partner ab. Manches wird aber auch einfach zerstört". Mittlerweile bestehen 70 Prozent des Autos aus dem leichten Verbundstoff. "Der Anteil steigt von Jahr zu Jahr", so der Experte. Mercedes-Arbeiter in weißen Kitteln Einen Raum weiter werden die zugeschnittenen Stücke in die passenden Formen geklebt. Die Arbeiter tragen weiße Kittel und Gummihandschuhe und müssen beim Übereinanderlegen der einzelnen Lagen präzise arbeiten. Schon kleine Fehler bei der Zusammensetzung der verschiedenen Karbonstrukturen oder Haare, die zwischen die einzelnen Lagen geraten, könnten die Haltbarkeit negativ beeinflussen. Nachdem die Bauteile nach den exakt berechneten Plänen zusammengeklebt sind, kommen sie einen der beiden Autoklaven. Bei Unterdruck und knapp 200 °C werden sie für drei bis vier Stunden gebacken, bis sie ausgehärtet sind. Alle Fertigungsstücke bekommen später eine bestimmte Lebensdauer zugewiesen. "Die richtet sich wie beim Flugzeug nach der Laufleistung des Autos und nicht nach der Zeit", so Bell. Ein Chassis hält beispielweise eine gesamte Saison, wenn es nicht bei einem Crash zerstört wird. Hinter der nächsten Tür steht auch schon so ein Monocoque, das nach dem letzten Einsatz an einigen Stellen ausgebessert werden muss. "Wir bauen fünf bis sechs Chassis pro Jahr", erklärt Bell. Wie ein Überraschungsei aus Schokolade besteht das Cockpit aus zwei Hälften, die zusammengesetzt werden. Drei bis vier Wochen Arbeit sind nötig, bis eins fertig ist. Formel 1-Autos werden in die Mangel genommen Nächste Station ist die Abteilung für Forschung und Entwicklung - oder wie der Engländer sagt "R&D" (research and developement). Hier werden die Bauteile auf Haltbarkeit und Zuverlässigkeit getestet. Riesige Prüfstände nehmen alle neuen Teile in die Mangel. "Hier werden auch die FIA-Zertifizierungstestes durchgeführt", erklärt Bell, während er zwischen den riesigen Hydraulik-Anlagen hin und her schlendert. In der Mittel der Halle steht ein so genannter Eight-Post-Rig. Um die Einflüsse eines Rennens auf das komplette Rennauto zu simulieren, wird der Silberpfeil inklusive Fahrerdummy auf vier hydraulische Stempel gestellt. An vier weiteren Punkten wird der Bolide mit Haken im Boden verzurrt. Die Haken ziehen das Auto nach unten und zwingen die Dämpfer in die Knie, um den zusätzlichen Abtrieb beim Fahren zu simulieren. Gleichzeitig bewegen sich die Stempel unter den Rädern nach oben und unten, als würde das Auto über Kerbs und Bodenwellen rumpeln. "Wir haben alle Strecken in den Computer einprogrammiert", erklärt der Experte den Besuchern stolz. In einem anderen Flügel des riesigen Gebäudes werden die Autos dann auf das Rennen vorbereitet und zusammengesetzt. Die komplizierteren Bauteile wie zum Beispiel das Getriebe werden in getrennten Räumen von Spezialisten präpariert und dann als ganze Einheit ans Auto geschraubt. An diesem Tag ist die Assembly-Halle jedoch wie ausgestorben. Die Autos stehen bereits in der Garage in Silverstone. Eckige Blöcke werden zu Negativ-Formen gefräst Mehr ist im so genannten "Pattern-Shop" los. Hier werden die Formen für die Karbon-Teile entwickelt. Die Fräsen sind computergesteuert und verwandeln viereckige Blöcke in Negativ-Vorlagen für die Klebetechniker. Die Arbeit in der separaten Halle ist eine staubige Angelegenheit. Das Material für die Formen besteht aus einem extrem feinen Verbundstoff, der sich beim Fräsen in kleinste Schwebepartikel verwandelt. In der Lackierungshalle möchte man von diesen Partikelchen lieber nichts wissen. Ein makelloses Finish dient nicht nur der Optik, sondern auch der Leistung. "Manche Teile sind extrem kritisch", erklärt Bell. "Wenn zum Beispiel ein Flügel nicht richtig lackiert ist, kann die Strömung beeinflusst werden." Seit diesem Jahr fahren die Silberpfeile in einem neuen Look. Die Übergänge von Silber in das Petronas-Grün lackieren Airbrush-Spezialisten mit der Hand. Neuer Mercedes für 2012 schon im Windkanal Die letzte Station der Reise ist der Windkanal. Doch leider sieht man hier nicht viel. "Kein Zutritt. Wir testen schon Teile für 2012. Deshalb sind wir da sehr vorsichtig", entschuldigt Bell das vorzeitige Ende der Führung im Foyer. Hier werden übrigens nicht nur die Luftströmungen um den Silberpfeil simuliert, auch Kunden können sich einmieten. Konkurrent Hispania ist regelmäßig zu Gast, auch Fahrräder wurden hier schon entwickelt. "Unser Windkanal ist einer der Besten in der Formel 1", erklärt Bell stolz. Und was kann Mercedes aus Sicht des Technikdirektors bei der Entwicklung noch besser machen? "Mir wäre es am liebsten, wenn die Aerodynamiker und Designer unter einem Dach wären", hat Bell schon eine Antwort parat. "Das würde die Wege etwas kürzer machen." Insgesamt arbeiten auf dem gesamten Gelände in Brackley rund 450 Angestellte. Die Fahrer waren übrigens zwei Tage vorher erst da. "Die kommen aber viel zu selten", lacht Bell und weist höflich auf die Sponsorverpflichtungen der Stars hin.
Quelle: Auto Motor und Sport |
verfasst am 15.08.2011
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