Motorsportlegenden erzählen die Geschichte ihres besten Rennens: Jackie Stewart erinnert sich an den Nürburgring 1968, als er den GP Deutschland auf der Nordschleife bei Regen und Nebel mit vier Minuten Vorsprung gewann. Für mich steht der Grand Prix am Nürburgring 1968 an erster Stelle meiner persönlichen Hitliste. Heute würde man so ein Rennen überhaupt nicht starten. Die Bedingungen waren lächerlich, geradezu grotesk. Regen, Nebel, praktisch null Sicht, und das bei 290 km/h auf der langen Geraden. Trotzdem wurde nicht einmal darüber diskutiert, den Start zu verschieben. Dabei gab es keine Fernseh- oder Satellitenzwänge. Es gab auch keinen Charlie Whiting, der sich für die Fahrer eingesetzt hätte. Der Veranstalter am Nürburgring hätte uns beim leisesten Protest gesagt: "Meine Herren, wenn Sie nicht fahren wollen, bleiben Sie zu Hause." Wir bekamen auf den langen Strecken wie Spa oder dem Nürburgring noch nicht mal eine Einführungsrunde, um uns mit den Verhältnissen vertraut zu machen. Die erste Runde war eine Fahrt ins Ungewisse. Nordschleife verändert jede Runde ihr Gesicht Es war so ein Tag, wo du aus welchen Gründen auch immer über dich hinauswächst. Mit vier Minuten Vorsprung zu gewinnen war auch in der damaligen Zeit ungewöhnlich. Für mich ging es nur darum, keinen Fehler zu machen. Ein paar wurden es dann doch. Mit ihren knapp 23 Kilometer Länge und 187 Kurven war die Nordschleife für dieses Wetter die ungeeignetste Strecke, die man sich vorstellen konnte. Es war sehr schwer, sich die kritischen Punkte zu merken, weil sich in neun Minuten von einer Runde zur nächsten das Bild komplett ändern konnte. Ich versuchte, mir die großen Pfützen und Bäche, die über die Strecke liefen, zu merken, aber mit jeder Runde kamen neue dazu. Der größte Bach lief am Wippermann über die Straße. Je länger es regnete, umso mehr Schlamm wurde auf die Strecke geschwemmt. Ich hatte einen Startplatz in der dritten Reihe, weil ich im Training keine trockene Runde fand. In der ersten Sitzung hielt mich ein Elektrikproblem in den Boxen fest. Dann begann es schon zu regnen. Beim Start habe ich mir einen Trick einfallen lassen. Damals waren Zielgerade und Boxen noch nicht durch eine Leitplanke getrennt. Der Boxenvorplatz bestand aus Betonplatten, die besseren Grip hatten als der Asphalt. Ich bin beim Beschleunigen da drauf gefahren und habe gleich mal fünf Autos überholt. In der Fuchsröhre bin ich an Chris Amon vorbei und kurz später an Graham Hill. Am Ende der ersten Runde hatte ich schon 30 Sekunden Vorsprung. Ab da bin ich ein einsames Rennen gefahren. Die Box hielt mich immer gut informiert. Sie haben mir am Nürburgring die Boxentafeln nicht auf der Zielgeraden gezeigt, sondern am Ende der Gegengeraden. Legastheniker-Vorteil auf dem Nürburgring Die Nordschleife war bereits 1968 an der Grenze für Formel 1-Autos. Wir sind 13 Mal pro Runde gesprungen. Manche Sprünge wurden im fünften Gang genommen. Formel 1-Autos sind nicht zum Springen gebaut. Wegen der hecklastigen Gewichtsverteilung ist die Landung immer ein haariges Manöver. Du bist selten auf allen vier Rädern gelandet. Wer damals ernsthaft behauptet hat, dass er den Nürburgring liebe, der war entweder nicht schnell genug oder dumm. Ich habe mich auf dem Ring sehr schnell zurechtgefunden, was vielleicht daran liegt, dass ich Legastheniker bin. Ich habe Mühe mit Lesen und Schreiben und kann mir nicht mal den Text unserer Nationalhymne merken. Aber bis heute kenne ich noch jeden Schalt- und jeden Bremspunkt. Statt Worten haben sich bei mir Erfahrungswerte ins Gedächtnis gebrannt. Das half mir auch bei dem Rennen 1968. Ich hatte für die ganzen Widrigkeiten auf der Strecke ein fotografisches Gedächtnis. Der Regen hat mir geholfen. Auf trockener Strecke hätte ich nicht gewonnen. Nach einem Formel 2-Unfall in Jarama ein paar Monate vorher fuhr ich mit einer Schiene am rechten Arm. Mit höheren Fliehkräften auf trockener Piste hätte ich konditionell Probleme bekommen. Formel 1 wird sicherer Obwohl wir am Ende doch gestartet sind, begann in dieser Zeit ein leises Umdenken. 1968 sind einfach zu viele Kollegen gestorben. Zwei Jahre später haben wir den Nürburgring gegen immensen Druck von außen boykottiert. Zum ersten Mal hatten sich die Fahrer auf die Hinterfüße gestellt. Wir hatten im Juni gerade die Begräbnisse von Bruce McLaren und Piers Courage hinter uns, als wir uns alle in einem Hotel in England getroffen haben. Jochen Rindt war zum Nürburgring gefahren, um die Strecke zu inspizieren. Der Veranstalter hat seine Mängelliste gar nicht ernstgenommen. Er wollte nichts ändern und nahm den Standpunkt ein: "Wir sind der Nürburgring. Wenn es Ihnen nicht passt, fahren andere." Wären die Verantwortlichen nicht so borniert gewesen und hätten einen Teil der geforderten Maßnahmen erfüllt, wären wir gefahren. Mit seiner Totalverweigerung hat er uns erst die Chance gegeben, ein Zeichen zu setzen, das überfällig war. Die Abstimmung unter uns Fahrern stand auf der Kippe. Die einen trauten sich nicht, gegen den Nürburgring vorzugehen, die anderen wollten sich der Stimme enthalten. Da ist Jack Brabham, unserer ältester Fahrer, aufgestanden und hat gesagt: "Wenn wir Jackie jetzt im Stich lassen, fahren wir ewig auf unsicheren Rennstrecken."
Quelle: Auto Motor und Sport |
verfasst am 05.01.2012
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