Der Bugatti Typ 64 war der letzte Bugatti, den Ettores Sohn Jean vor seinem Unfalltod 1939 kreierte. Nach einem halben Jahrhundert wurde der Prototyp wieder betriebsbereit gemacht. Der letzte Ölwechsel wurde bei dem Bugatti Typ 64 bei Kilometerstand 19.597 vorgenommen, laut Merkzettel links vorn im Motorraum wurde 40er-Einbereichsöl verwendet. Heute zeigt das Zählwerk 22.654 Kilometer, im Grunde noch kein allzu dringender Handlungsbedarf - allerdings liegt zwischen den beiden Zählerständen geschätzt ein gutes halbes Jahrhundert, so genau weiß das niemand. Nach 50 Jahren steht beim Bugatti Typ 64 kaum mehr als ein Ölwechsel an "Also haben wir erst einmal den alten Schmierstoff abgelassen, frischen eingefüllt - diesmal 50er-Einbereichsöl -, und mit einer Art Handpumpe Öldruck in der gleitgelagerten Kurbelwelle und an den Nockenwellen aufgebaut", erklärt Brice Chalançon, Leiter der Restaurierungswerkstatt der Cité de l'Automobile im französischen Mulhouse, auch bekannt unter dem Namen Schlumpf-Kollektion. Rund 400 Fahrzeuge stehen in den Hallen der ehemaligen Wollspinnerei in der Ausstellung, weitere 200 in den umliegenden Backsteingebäuden - fast alle in wunderbarem Originalzustand, doch die wenigsten wirklich fahrbereit. "Wir wollen pro Jahr einige Autos aus der Kollektion behutsam fahrbereit machen, um sie der Öffentlichkeit in Aktion präsentieren zu können", sagt Emmanuel Bacquet, der Direktor des staatlichen Museums. Der Bugatti Typ 64 wiederum steht dabei ganz oben auf seiner Liste, schließlich ist der Versuchsträger das letzte Auto, das Ettores hochbegabter ältester Sohn Jean vor seinem Tod geschaffen hat. Monsieur Jean, wie er von den zeitweise knapp 1.200 Mitarbeitern in Molsheim genannt wurde, hieß eigentlich Gianoberto Carlo Rembrandt und wurde 1909 in Mülheim bei Köln geboren, wo Vater Ettore bei der Firma Deutz beschäftigt war. Ein Jahr später aber zog die Familie ins (bald wieder) französische Elsass, wo Ettore Bugatti fortan seine eigenen Kreationen baute, und aus Gianoberto wurde Jean. Seine Jugend verbringt der wissbegierige Jean in den Werkhallen. Mit knapp 20 Jahren überredet er seinen Vater, dem Beispiel des amerikanischen Herstellers Miller zu folgen und den Bugatti-Motoren zwei obenliegende Nockenwellen aufzupflanzen; drei Jahre später übernimmt er die Entwicklung des legendären Typ 57. Als Ettore Bugatti in den späten Dreißigern hauptsächlich mit den Banken und seinem Traum vom Eisenbahn-Triebwagen beschäftigt ist, lenkt Monsieur Jean die Geschicke der Automobiles Bugatti und ist auch für die Siege in Le Mans 1937 und 1939 verantwortlich. Tragischer Unfall ist der Anfang vom Ende der Marke Bugatti Die Arbeit am Bugatti Typ 64, der den 57 ablösen sollte, begann bereits 1938. Neu sind vor allem der genietete Kastenrahmen aus der Aluminium-Legierung Dural sowie der langhubige 4,4-Liter-Reihenachtzylinder, dessen zwei obenliegende Nockenwellen nun von einer Duplexkette angetrieben werden und nicht mehr über Stirnräder. Die Kraftübertragung übernimmt ein elektromagnetisches Cotal-Getriebe, für die Verzögerung des 185 PS starken, 1.265 Kilogramm leichten und 180 km/h schnellen Viersitzers sorgen hydraulische Trommelbremsen von Lockheed. Die Präsentation des eleganten Zweitürers Bugatti Typ 64 mit dem spitzen Kühler des 57 verzögert sich jedoch, nicht zuletzt wegen der finanziellen Schwierigkeiten der Firma und des heraufziehenden Krieges. Dann kommt der 11. August 1939: Jean Bugatti will den 57C Tank für den La Baule-Grand Prix auf der Landstraße zwischen Duttlenheim und Entzheim testen, muss einem unvorsichtigen Radfahrer ausweichen und prallt mit weit über 200 km/h frontal gegen einen Baum. Der explodierende Benzintank setzt den Baum und eine nahe Mühle in Brand, Monsieur Jean wird aus dem Rennwagen geschleudert und ist sofort tot. Ettore Bugatti wird sich von dieser Tragödie nie wieder erholen und stirbt im August 1947 an den Folgen eines Schlaganfalls. Jeans weit jüngerer Bruder Roland, geboren 1922, führt nun die Geschäfte in Molsheim, allerdings ohne wirkliche Fortune: Nach langem Siechtum über nimmt Hispano-Suiza das Bugatti-Werk 1963 und stellt sofort die Produktion endgültig ein. Anschließend erwerben die elsässischen Gebrüder Schlumpf, die bis dahin bereits eine spektakuläre Bugatti-Sammlung aufgebaut haben (und sich dadurch so ruiniert haben, dass ihre Sammlung 1976 vom französischen Staat beschlagnahmt und 1982 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde), sämtliche noch in der Fabrik vorhandenen Fahrzeuge, Versuchsträger und Teile - darunter auch den Bugatti Typ 64. Patina des Bugatti 64 soll erhalten werden "Der Bugatti Typ 64 diente nach Jeans Tod sowie in den ersten Nachkriegsjahren als eine Art Firmenwagen, in dem Gäste chauffiert und beispielsweise vom Flughafen abgeholt wurden", erzählt Richard Keller, der Kurator der Cité de l'Automobile. Wann der Bugatti Typ 64 endgültig abgestellt wurde, ist unklar, ebenso, ob sich unter dem nachtschwarzen Lack noch eine weitere Farbe befindet. "Wir lassen gerade Proben analysieren", meint Keller dazu. Restauriert werden soll der Bugatti jedoch nicht, schließlich gilt es, die einmalige Patina des Grand Turisme zu erhalten. Tatsächlich verströmt der Bugatti Typ 64 eine Atmosphäre, die selbst hartgesottene Fans klassischer Automobile beim direkten Kontakt in die Knie zwingt und zu andächtigem Schweigen veranlasst. Die rassige Form der Karosserie mit den tropfenförmigen Radabdeckungen, dem lang auslaufenden Heck samt dem kleinen, doppelten Heckfenster und die an den Atlantic erinnernde Finne auf dem Dach ist einfach wunderschön. Das abgegriffene Leder der vier Sitze im Bugatti Typ 64, das große Lenkrad mit dem fehlenden Hupknopf und das großzügig, aber nicht protzig verteilte Holz im Innenraum wirken wie letzte Überbleibsel einer untergegangenen Zivilisation. Wer im Bugatti Typ 64 Platz nimmt, sollte einen feinen Wollpullover und eine rechteckige Reverso tragen. Bei der Technik hingegen sind romantische Schwärmereien fehl am Platz, weshalb Brice Chalançon und seine beiden Helfer Guy Brodbeck und Claude König auch zuallererst die vier bröseligen Originalreifen gegen neues Material getauscht haben. Dann erhielten die vier gigantischen Trommelbremsen neue Bremszylinder und neue Beläge. "Neben dem Motoröl wurden natürlich auch Getriebe- und Hinterachsgetriebeöl bei dem Bugatti Typ 64 gewechselt, außerdem haben wir den Antrieb von Öl- und Wasserpumpe revidiert, eine neue Zündanlage montiert sowie den Weber-Vergaser gereinigt", zählt Brice Chalançon auf. Dann folgt in der Werkstatt in Mulhouse der Moment der Wahrheit: der erste Probelauf des Bugatti Typ 64 nach mehreren Jahrzehnten. Öldruck aufbauen, Motor von Hand drehen, kontrollieren, ob alles funktioniert und nichts ausläuft, ein Druck auf den Starter und - voilà: Der mächtige Reihenachtzylinder läuft. Erstaunlich leise übrigens, beinahe flüsternd. Ein paar Mal hustet der Motor des Bugatti Typ 64 noch durch das Flammsieb des seitlichen Weber-Vergasers, dann verfällt er in einen stabilen Leerlauf mit wenigen hundert Umdrehungen. Das elektromagnetische Getriebe schaltet weicher als manch moderne Automatik Zur Probefahrt geht es im Transporter auf eine gesperrte Landstraße nördlich von Mulhouse, Guy Brodbeck probiert kurz, ob das Cotal-Getriebe des Bugatti Typ 64 schaltet, dann bittet mich Brice hinter das rechts angeordnete Steuer. Der Reihenachtzylinder reagiert sensibel auf kleinste Gasbefehle und dreht blitzartig hoch, erhebt aber akustisch kaum die Stimme. Mit einem kleinen Hebel zwischen den Vordersitzen des Bugatti Typ 64 wird bei getretener Kupplung mechanisch der Vorwärtsgang eingelegt, anschließend drücke ich mit dem Zeigefinger den wenige Zentimeter langen Schalthebel rechts am Lenkrad auf die 1. Wie ein modernes Auto setzt sich der Bugatti Typ 64 leicht dosierbar in Bewegung, zum weiteren Hochschalten geht man lediglich kurz vom Gas, schnippt in die nächste der vier Fahrstufen und steigt wieder aufs Gaspedal. Insgesamt schaltet das elektromagnetische Getriebe des Bugatti Typ 64 weicher als manch moderne Automatik - von etlichen Fahrern ganz zu schweigen. Der Eindruck eines weit moderneren Automobils als Baujahr 1939 setzt sich beim Motor fort: Der Achtzylinder des Bugatti Typ 64 geht mit dieser souverän-gelassenen Art ans Werk, die großvolumigen Saugmotoren eigen ist, und lässt den Fahrer die Strecke entspannt zurücklegen. Bei Bedarf könnten wir nun mit Tempo 130 nach Paris fahren und würden vermutlich beinahe ebenso ausgeruht ankommen wie in einem modernen Wagen. Einzig die trampelige vordere Starrachse erinnert an das Baujahr des Bugatti Typ 64, weshalb Jean Bugatti die Konstruktion bereits beim 57 gegen Einzelradaufhängung tauschen wollte. Sein Vater aber war leider der Ansicht, nur ein Bugatti mit der einst berühmten, hohlgebohrten Bugatti-Achse sei ein würdiges Auto aus Molsheim - eine Fortschritts-Feindlichkeit, die Bruder Roland später sogar noch beim unglücklichen GP-Bugatti 251 von 1955 beibehielt. Auch die Bremsen entsprechen natürlich dem Stand der Zeit. Doch die Verzögerung ist anständig, insgesamt macht der Bugatti Typ 64 einen überaus leichtfüßigen Eindruck. Man möchte gar nicht mehr aussteigen aus dieser Zeitmaschine und lässt den Wagen nur ungern in den Hallen in Mulhouse zurück. Glücklicherweise will Emmanuel Bacquet den Bugatti Typ 64 bei mehreren Veranstaltungen präsentieren. Dann kommen zu den von mir gefahrenen zwölf Kilometern noch etliche weitere hinzu - bis zum nächsten Ölwechsel ist ja noch Zeit. "Wir haben übrigens den alten Schmierstoff aus dem Motor analysieren lassen", meint Brice Chalançon dazu: "Theoretisch wäre er noch brauchbar gewesen."
Quelle: Motor Klassik |
verfasst am 03.01.2011
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