Fiat 130 - diesen schlichten Namen trägt die letzte Oberklasse-Limousine von Fiat. Er glänzte mit moderner Technik, guten Fahrleistungen und einer raffinierten Ausstattung - blieb aber dennoch ein Außenseiter. Umso begehrter sind heute die wenigen Überlebenden. Wie werden wir heute doch von unseren modernen Autos verwöhnt. Wer zum Beispiel aus dem aktuellen kompakten Fiat Bravo in das einstige Oberklasse-Modell Fiat 130 von 1972 umsteigt, hat zunächst das Gefühl, im deutlich kleineren und günstigeren Fiat 125 zu sitzen. Understatement auf Italienisch Wo bleibt das erhabene Raumgefühl? Der verschwenderische Luxus? Die chromgefassten Instrumente? Die opulent geformten Sitze mit hohen Nackenstützen? Das kann der neue Bravo doch alles viel besser - und ist nun wirklich kein Luxusauto! Doch langsam, der alte Herr Fiat 130 zeigt uns gleich, was in ihm steckt. Der erste, unvergessliche Eindruck hinter dem Lenkrad des Fiat 130 erinnert an einen Song aus dem Musical "Hair": Let the sunshine in. Da können keine modernen Autos mithalten, deren Mutationen zum düsteren Panzerspähwagen ungebrochen anhalten. Nicht nur die Sonne und der Himmel, sondern vor allem auch die links und rechts vorbeiziehende Landschaft und die vor ihm fliehende Straße genießt der 130-Fahrer im Breitband-Cinemascope-Format. Der Dachaufbau des Fiat 130 mit seinen schlanken Säulen nimmt beinahe die Hälfte der Wagenhöhe ein. Dazu sitzt der Fahrer relativ hoch auf seinem weichen Polsterstuhl und hält ein dünnes Kunststoff-Lenkrad in Händen. Natürlich war das damals typisch für den europäischen Karosserie-Stil, den wir zum Beispiel auch bei einem BMW 2800 oder Mercedes 280 S vorfinden. Doch der große Fiat 130 kann noch viel mehr. Unter der luftigen, nicht besonders originellen, dafür aber zeitlos eleganten und perfekt proportionierten Fiat 130-Karosserie verbirgt sich nämlich das Beste, was damals die Auto-Nation Italien zu bieten hatte. Es scheint so, dass Fiat der Welt einmal zeigen wollte, wozu die vor allem durch Kleinwagen und Familienautos bekannte Marke im Luxusbereich fähig ist. Man fing mit der Konstruktion des Fiat 130 praktisch mit einem weißen Blatt Papier an und schwor sich, kein vorhandenes, aus einem anderen Modell übernommenes Teil zu verwenden. Motor ist ein abgespeckter Dino-V6 Der Motorenspezialist Aurelio Lampredi, der auch den V6-Sportmotor für den Fiat Dino und den Dino von Ferrari konstruierte, lieferte eine abgespeckte Variante mit nur einer Nockenwelle pro Zylinderreihe und mit deutlich mehr Hubraum. Bei der Präsentation 1969 leistete der 2,9-Liter-V6 im Fiat 130 standfeste 140 PS, ab 1970 mit 3,2 Liter Hubraum stramme 165 PS. Damit war der 130 dank seines ordentlichen Drehmoments von 255 Newtonmeter bei 3.400/min auch bestens für eine Dreigangautomatik geeignet, die Borg Warner beisteuerte. Das Fahrwerk des Fiat 130 erhielt hinten und vorn Einzelradaufhängung; vorn interessanterweise und exklusiv mit einer Drehstabfederung und hinten mit Schräglenkern und Schraubenfedern - was sonst nur Dino-Coupé und -Spider vorzuweisen hatten. Vier Scheibenbremsen hielten den 190 km/h schnellen Viertürer sicher unter Kontrolle. Satte 205er- Reifen auf 14 Zoll großen Magnesiumfelgen unterstrichen den repräsentativen Auftritt des stattlichen Italieners. Luxusausstattung auf höchstem Niveau Fiat wickelte das topmoderne Technikpaket des Fiat 130 in buntes Geschenkpapier, bestehend aus sinnvollen bis verspielten Ausstattungsdetails, die es damals zum Teil weder bei Mercedes, Jaguar und nicht einmal bei Cadillac gab. Neben den Standards wie Liegesitze, elektrische Fensterheber und Klimaanlage (mit Luftaustritt für die Fond-Passagiere) entdecken wir im Fiat 130 eine Vollinstrumentierung einschließlich Öldruck- und Öltemperatur-Anzeige, eine in Höhe und Länge verstellbare Lenksäule, einen Handgashebel als Tempomat-Ersatz, zwei Sonnenrollos am Heckfenster, Kindersicherungen an den hinteren Türen und einige Nettigkeiten, welche die Mittelkonsole bietet: Mit dem Schalter, den das Symbol einer Fanfarentrompete kennzeichnet, macht der Fiat 130-Pilot bei Überlandfahrten die zusätzlich eingebaute Kompressor-Hupe scharf. Rechts daneben der Schalter mit einer Art Korkenzieher-Symbol. Mit ihm lässt sich, wenn einem nach Musik verlangt, die Heck-Antenne fürs Radio ausfahren. Doch das Gadget aller Gadgets des Fiat 130 ertönt jetzt vor dem Start zur Probefahrt. Ein altes Bakelit-Telefon scheint irgendwo im Fußraum akustisch-metallisch zu klingeln. Nein, es ist kein Anruf von Giovanni Agnelli aus dem Jenseits, der wissen will, ob alles in Ordnung sei, sondern nur die Handbremse, die vor der Fahrt zu lösen ist. Wir suchen im Fiat 130 verzweifelt nach einem Hebel auf der Mittelkonsole, doch dieser befindet sich links unten neben der Fahrersitzschiene. Wir drücken mit dem Daumen den Sperrknopf, heben den Bremshebel etwas hoch und senken ihn zum Boden hinab. Das Klingeln hört auf. Den solide geformten Automatik-Wählhebel nach hinten auf D gezogen - und schon geht's los, der Fiat 130 setzt sich in Bewegung. Gute Fahrleistungen und agiles Fahrwerk Fast wie ein Ami-V8 hängt der Italo-V6 des Fiat 130 trotz Automatik am Gas und bringt den dunkelblauen Glaspalast mächtig und druckvoll in Fahrt. Auch die Tester von auto motor und sport waren einst von dem Automatik-Fiat 130 begeistert und stellten gegenüber dem schwächeren 2,9-Liter-Motor eindeutige Verbesserungen fest: "Aus dem etwas trägen Altherrenfahrzeug wurde ein lebendiges Auto, dem es bei allen Komfortmerkmalen nicht an sportlichen Elementen fehlt." Die Beschleunigung von null auf 100 km/h verbesserte sich um zwei auf 11,9 Sekunden. Damit lag der große Fiat 130 auf dem Niveau seiner einstigen Automatik-Rivalen wie BMW 2800 und Opel Admiral E, während der Jaguar XJ 6 2.8 mit 16,5 und der Mercedes-Benz 280 SE mit 12,4 Sekunden hinterherhinkten. Der bei höheren Touren sportlich-kernige Motorklang des Fiat 130 passt jedoch besser zu dem serienmäßigen ZF-Fünfganggetriebe, das auch die Beschleunigungszeit auf rund zehn Sekunden verkürzt. Verblüffend die Agilität und Handlichkeit des nicht zu weich gefederten Fiat 130, der darin nun doch dem deutlich kompakteren 125 gleicht. Hinzu kommt ein erstaunlich gutes Schluckvermögen der einzeln aufgehängten Räder auf welligem Untergrund. Was jedoch ebenso an den 125 und sogar an den noch profaneren 124 erinnert, sind die drei graubraunen Plastikjoghurtlöffel als Lenksäulenhebel des Fiat 130 für Licht, Blinker und Scheibenwischer. Ebenso wenig stilvoll wirkt die moderne, komplett schwarze Instrumenteneinheit im Verbund mit der üppigen, hellblauen Polsterung und dem noblen Echtholz-Armaturenbrett. Hier hätten wir, sollte l'Avvocato Agnelli doch einmal anrufen, wohl Grund für eine kleine Beschwerde.
Quelle: Motor Klassik |
verfasst am 04.02.2011
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