Blinkersound und Warntöne kommen schon lange nicht mehr von Relais oder Piepern. Designer komponieren teilweise Stücke für alles, was im Auto summt, piepst und schnurrt.
München – Renzo Vitale dreht an einem Regler. Die hellen Töne ändern sich, werden zu einem Piepen. Vitale hält auf seinem Keyboard mit der rechten Hand drei Tasten gedrückt, mit der linken ändert er an einem Synthesizer den Ton. Der Sound klingt jetzt irgendwie außerirdisch. Es brummt dunkel durch den Raum, summt heller und wabert schließlich. Eine akustische Illusion. Dr. Renzo Vitale ist 38 Jahre alt. Musiker, Komponist, Elektroingenieur. Und Creative Director für Sounddesign bei BMW. Der gebürtige Italiener haucht Fahrzeugen von BMW, Mini und Rolls-Royce den richtigen Ton ein. Nicht für Motoren und Auspuff, sondern für Elektroantriebe und elektronische Bauteile. Dazu zählen Blinkergeräusche und Warnsignale. Denn das metallisch klappernde Relais unterhalb des Lenkrades wird nicht mehr eingebaut. Moderne Blinker setzen auf Sound-Buzzer, die sich im Armaturenbrett verstecken. Oder das bekannte Tok-Tok kommt gleich aus den Lautsprechern. So klingt es satter und hochwertiger. Wie ein Auto hupt oder blinkt, entsteht nicht zufällig. Wer an Design denkt, meint meist die Optik. Doch Design meint ebenso die Akustik. "Auch wenn es unbewusst passiert, sind Klänge und Geräusche wichtig. Sie drücken Informationen, Stimmungen und Gefühle aus, wie die Stimme eines Menschen", sagt Vitale. Im Auto muss deshalb jeder Klang eine Bedeutung übermitteln und einer bestimmten Ästhetik entsprechen. Statt laut, rau oder kraftvoll benutzt der Musiker ein neues Klangvokabular wie präsent, minimalistisch, umarmend, elegant und visionär. Für ihn hat jedes Auto eine eigene Persönlichkeit, Charakter und Charme. Acht Monate für den passenden BlinkersoundHersteller wie BMW und Mercedes beschäftigen einige Mitarbeiter in Tonstudios, die an die speziellen Erfordernisse der Automobilentwicklung angepasst sind. Rund 120 Mitarbeiter tüfteln bei BMW am Sound für ein emotionales Klangerlebnis. Im BMW-Soundlabor in Aschheim im Norden Münchens und im Forschungs- und Informationszentrum (FIZ) beschäftigt sich Vitale mit dem Klang von Elektrofahrzeugen und Klangzeichen. Dazu zählen Blinkertöne ebenso wie Warnsignale fürs elektrische Anfahren, Gurtanlegen, Handbremse oder Einparkhilfe. Banal? Sounddesign ist ein langer Prozess. An dem passenden Blinkersound feilen die Musiker bis zu acht Monate lang. Auch wenn am Ende nur ein oder zwei Sekunden zu hören sind. Zuerst entwickeln sie aus dem Produkt grobe Ideen für den Zielsound. Auf Testfahrten fühlen sie sich ins Auto ein, untersuchen, wie es Sound wiedergibt. Dazu zählen ebenso Geräuschentwicklungen am Prüfstand und der Prototypenbau. Anschließend setzen sie sich ins Studio und kreieren einen neuen Klang, hören ihn in Listening-Sessions immer und immer wieder. Seine Inspiration holt sich Vitale nicht in der Autowelt. Vielmehr lässt er sich von der Kunstwelt beflügeln. "Ich fühle mich als Musiker, aber auch als Komponist und Ingenieur. Das gehört für mich zusammen", sagt er. Aus bis zu 1.000 Ideen filtern die BMW-Experten drei für eine Präsentation mit den jeweiligen Markenchefs heraus. Anschließend müssen Vitale und sein Team dafür sorgen, dass die Sounds auf dem Steuergerät der Autos Platz finden. "Ein guter Sound muss eine Persönlichkeit haben, einen eigenen Charakter. Außerdem muss er eine Geschichte erzählen und hochwertig klingen", sagt Vitale. Für ihn ist der Sound lebendig, mit Erinnerungen behaftet, hypnotisch. Er konnte als Kind jederzeit schon von Weitem den Renault 5 seines Vaters aus dem Verkehr heraushören – und freute sich. Freitags begibt sich Vitale auf SchatzsucheBevor er sich in sein Tonstudio setzt und den Computer hochfährt, hat Vitale ein Konzept im Kopf, eine Grundidee, wonach er sucht. "Was soll das Auto sagen, das ist der erste Schritt", sagt er. Beim Ausprobieren entstehen neue Ideen, auch wenn es nur ein kleiner Soundschnipsel sein mag, ein neuer Impuls. "Mit zwei Reglern an einem Synthesizer kann ich Stunden verbringen, ohne, dass es langweilig wird", sagt Vitale. Meist freitags zieht sich Vitale vom Abstimmungs- und Meetingmarathon des Konzerns zurück und schließt sich in seinem Tonstudio ein. Der Italiener arbeitet ohne Soundprogramme. Er nutzt für seine Kompositionen Keyboard, Synthesizer und analoge Geräte. An seinem kreativen Tag experimentiert er an neuen Tönen, nimmt sie auf und speichert sie. Einzelne Töne zerlegt er in kleinste Bestandteile. "Es ist wie eine Schatzsuche, ich extrahiere ein Element aus einem Sound und entdecke etwas völlig Neues", sagt er. Mit seinen neun Synthesizern, einem analogen Drumcomputer und der Mikrophonic-Soundbox verändert er die Klänge, lässt sie langsamer oder schneller in Endlosschleifen laufen. "Beim Ausprobieren verfliegt die Zeit, Stunden werden zu Sekunden, ich spiele mich dann in einen Rausch", sagt der Musiker. Zeitweise klingt es wie in einer Daddelhöhle oder auf einem Technokonzert. Ein SUV klingt anders als ein MiniEin typischer BMW soll dynamisch und kraftvoll klingen, unabhängig vom Motor. "Ein Fahrzeug ist für mich nicht nur ein Auto, sondern eine Klangskulptur, ein Gesamtkunstwerk. Die Beziehung von Aktion und Reaktion müssen die Insassen spüren", sagt er. Nicht jedes BMW-Fahrzeug klinge gleich. Schon deshalb nicht, da sie auf unterschiedlichen Karosserien stehen. Ein Kleinwagen hat nun mal einen anderen Klangkörper als ein SUV. Wenn ein Mini, BMW und Rolls-Royce an einer Ampel aufeinander treffen, stehen dort unterschiedliche Fahrzeuge, die miteinander harmonieren. "Es wäre schön, wenn ich das mal als Performance auf die Bühne bringen könnte", sagt er. Der Weg ins BMW-Soundlabor war weit. Mit Autos hatte Vitale lange nichts zu tun. Er studierte in Rom klassische Musik und Elektrotechnik, spielte Piano und Orgel. Zu seinen Lieblingsmusikern zählt er Bach, Strawinsky, Rachmaninov und Skrjabin. Während seines Studiums analysierte er Karlheinz Stockhausen und John Cage, die Pioniere der Elektromusik. "Mich interessierten immer Musik und Akustik. Ich wollte und will immer noch verstehen, wie ein Klang entsteht", sagt er. Nach der Zeit in Rom zog es ihm zum KTH Royal Institute of Technology nach Stockholm, dann an die RWTH Aachen. Dort studierte Vitale Technische Akustik. Denn eigentlich plante er, Konzertsäle zu bauen. Vorher wollte er noch sein Musikerleben genießen, in New York City. Halbtags lehrte er am Pratt Institut und produzierte nebenbei drei Studioalben, Performance-Stücke und gab Konzerte. Zur Beendigung seiner Dissertation ging er wieder nach Aachen, danach sollte es in die USA zurückgehen. Es kam anders. Ein Promotionskollege bat ihn 2014, als Pianist bei seiner Hochzeit zu spielen. Dort erzählte ihm der Bräutigam, der bei BMW arbeitet, dass sie einen Akustiker suchen. Er solle sich bitte bewerben. "Eigentlich wollte ich auf einer Kreuzfahrt als Pianist arbeiten und danach wieder nach New York, doch der Job bei BMW hat mich neugierig gemacht. Die Komplexität eines Autos begeistert mich, vor allem als Ingenieur", sagt er. Zwei Jahre arbeitete er in der Akustikabteilung, bis er 2017 den Job als Sounddesigner angeboten bekommt. Nebenbei komponierte er für das Symphonie-Orchester des bayerischen Rundfunks. Der Sound der Zukunft gehört den StromernDas für ihn bestklingendste Auto will er nicht verraten. Als gebürtiger Italiener gefallen ihm historische Ferrari-Modelle wie der seltene GT 380 oder die Pininfarina Hommage an Enzo Ferrari, aus dem aktuellen BMW-Programm mag er den BMW i8. Der Sound der Zukunft gehört für Vitale dem Elektrofahrzeug. Das Serienmodell des BMW iNext ist derzeit das wichtigste Projekt. Es kommt in zwei, drei Jahren auf den Markt. Vielleicht lässt sich dann der Sound im Innenraum verändern wie heute schon das Ambientelicht oder die Fahrwerkeinstellung. Dabei wird entscheidend sein, wie der Sound den Fahrer beeinflusst. Wie er das Leben an Bord vereinfacht oder andere Verkehrsteilnehmer warnt. In den USA müssen neu zugelassene Elektrofahrzeuge ab September 2019 einen akustischen Fußgängerschutz besitzen. Klang ist nicht nur deshalb wichtig. Er ist vielleicht sogar noch wichtiger als optisches Design. Denn die Augen lassen sich schließen. Die Ohren nie.
Quelle: Fabian Hoberg |