Raus aus der Identitätskrise: Opels Rolle bei PSA gewinnt Konturen. Technisch, im Entwicklungsnetzwerk und kulturell. So will sich Opel im neuen Konzern aufstellen.
Rüsselsheim - Ein bisschen fühlt sich Opel derzeit an wie die Ex-DDR der 1990er-Jahre. Der Wechsel der deutschen Marke vom US-Konzern General Motors (GM) zur französischen PSA-Gruppe im August 2017 verändert praktisch alles - in kürzester Zeit. "Die Opel-Welt wurde neu konfiguriert", findet Opel-Entwicklungschef Christian Müller dafür eine Formulierung, die besser in seine Autowelt passt. Wochenlang beherrschte der Disput mit der IG Metall die Schlagzeilen. Jetzt möchte Rüsselsheim endlich wieder über Autos reden. Und über Opel, denn: Wo alte Gewissheiten nicht mehr greifen, muss die Frage "Wer sind wir?" ernsthaft diskutiert werden. Was ist die Opel-Identität im PSA-Konzern? Die Antwort auf diese Frage entstand in langen, zermürbenden Workshops und klingt vermutlich genau deshalb sehr einfach: Deutsch, nahbar und aufregend möchte Opel neben Peugeot, Citroën und DS künftig wahrgenommen werden. Quelle: Opel Was das konkret bedeutet? Jeder Opel werde mit besonderem Fokus auf Hochgeschwindigkeit, auf die deutsche Autobahn entwickelt, sagt Opel-Chef Michael Lohscheller. Technik um der Technik willen? Das wäre nicht nahbar. Wenn ein Drehknopf besser sei als eine Touchscreen-Menüoption, werde man am Drehknopf festhalten. Da ist doch schon mal ein klarer Unterschied zu Peugeot oder Citroën. Die PSA-Gruppe verfügt unter Carlos Tavares wie wenige andere Konzerne über eine durchdeklinierte Plattformstrategie. Und legt Wert darauf, dass jede Marke sich dennoch unverwechselbar macht. Badge engineering? Bloß nicht! Alle Opel-Modelle werden künftig in Rüsselsheim entwickelt, sagt Lohscheller - Betonung auf "entwickelt", nicht nur: adaptiert. Das bedeutet eigenständig konfigurierte Software und Kalibrierung und umfasst alle sichtbaren Materialien. Auch das Design, sagt der Opel-Designer Friedhelm Engler, bleibe eigenständig. Und erläutert das anhand der GT-Studie von 2016. Ein GM-Relikt, das zeigen soll: Opel muss sich zwar neu orientieren, aber nicht neu erfinden. Opels Griff in den BaukastenIn der Welt des Carlos Tavares dreht sich fast alles um Effizienz und Synergien. Nicht, dass GM davon nichts versteht. Aber die Schwestermodelle eines Astra fahren durch Amerika und China. Die Anforderungen bei Peugeot und Citroën sind Opel näher. Für Opel ändert Tavares' Baukasten daher fast alles. Auch auf Opels größter Baustelle: dem Geldverdienen. Man könne mit den neuen Plattformen und Modulen "bei der Entwicklung jedes neuen Opel/Vauxhall-Modells zwischen 20 Prozent und 50 Prozent der Entwicklungskosten einsparen“, sagt Michael Lohscheller. Bis 2020 muss er einen positiven Cashflow und eine Marge von 2 Prozent erreichen, 2026 sollen es branchenübliche 6 Prozent sein. "Bei gesteigerter Qualität", wie Lohscheller betont. Denn sein Cashflow dürfte nicht die erste Sorge der Autokäufer sein. Quelle: Opel Mehr Qualität bei niedrigeren Entwicklungskosten? Gerade die Standardisierung mache es möglich, sagt Flavio Friesen, Direktor für Entwicklung und Qualität. Da die Ingenieure weniger Arbeit in die Adaption globaler Komponenten stecken, bleibe mehr Raum für Konzentration auf das letztliche Produkt. Die Plattform stehe für 60 Prozent der Materialkosten eines Autos. Zu GM-Zeiten hat Opel sich opulenten Wildwuchs geleistet. 13 Modelle standen bisher auf neun Plattformen, hinzu kamen 10 Motoren- und 12 Getriebefamilien. Daraus resultierten 47 Motor-Getriebe-Konfigurationen. CMP, EMP2 und die LenkräderNicht so in der PSA-Welt. Der französische Konzern setzt auf zwei Plattformen. CMP für Kleinwagen und kleine Kompakte, EMP2 für Fahrzeuge ab der Kompaktklasse aufwärts. Für den Antrieb sorgen vier Grundmotoren, zwei Benziner und zwei Diesel. 13 Modelle pro Plattform sind konzernweit vorgesehen, jedes davon mit Elektro-Option. CMP-Modelle erhalten eine rein batterieelektrische Lösung, EMP2-Modelle einen Plug-in-Hybridantrieb. Die CMP-Plattform kann drei Radstände abbilden, EMP2 ist deutlich flexibler: Vier Spurbreiten, fünf Radstände, zwei Cockpit-Architekturen sowie Verbund- oder Mehrlenker-Hinterachse sind mit der "efficient modular platform" möglich. Was so schön schlicht klingt, muss schlicht bleiben, soll die Kostenrechnung auch in Zukunft stimmen. Opel nennt ein Beispiel: Baureihen-Verantwortliche dürfen, anders als zu GM-Zeiten, ohne Genehmigung der Baukasten-Wächter keine modellspezifischen Varianten von Komponenten mehr bestellen. Für den aktuellen Corsa E hatte Opel ursprünglich 10 Lenkräder vorgesehen, zwischenzeitlich waren 17 lieferbar. Ein echter Anti-Tavares. Mittlerweile hat Opel die 7 überzähligen Varianten wieder gestrichen. Den kommenden Corsa zog Opel in Rekordzeit von einer GM- auf eine PSA-Plattform um: 2017 fiel die Entscheidung. 2019 soll das neue Modell bereits vom Band laufen, inklusive einer rein elektrischen Variante. 50 Prozent der ursprünglich projektierten Entwicklungskosten konnte Opel nach eigenen Angaben herauskürzen. Wo, dafür hat Flavio Friesen zwei anschauliche Beispiele: Im aktuellen Corsa gebe es 57 Infotainment-Varianten, im Neuen sind es weniger als 10. Statt aktuell 16 verschiedener Windschutzscheiben können im nächsten Corsa nur noch 9 vorkommen. Die Vielfalt beim Glas entsteht vor allem durch unterschiedliche Sensorcluster für Assistenzsysteme. Gibt es hier weniger Optionen, muss Opel weniger Scheiben bestellen. Was wird aus der GM-Technik?Quelle: Opel Erst 2024 ist GM technisch komplett raus bei Opel. Dann sollen alle Baureihen auf PSA-Plattformen stehen. Bis dahin wird überbrückt: Soeben haben die Rüsselsheimer einen ganzen Schwung GM-Motoren in Adam, Corsa, Astra, Insignia und Zafira für die künftige Abgasnorm Euro 6d-Temp fitgemacht. Es bleibt wohl die letzte grundlegende Investition in die "GM-Historie" - von Facelift-Maßnahmen wie der Überarbeitung des Insignia-Infotainments abgesehen. Mischformen aus PSA- und GM-Komponenten schließen die Opel-Ingenieure aus. Es wird weder eine PSA-Plattform mit GM-Motor geben noch umgekehrt. Opel wird auch keine zusätzlichen GM-Plattformen elektrifizieren. Wenn die Marke ab 2022 Mildhybridsysteme mit 48 Volt und Doppelkupplungsgetriebe (vom Zulieferer Punch Powertrain) ankündigt, dann sind damit nur "PSA-Opel" gemeint. Zu den vier Elektroautos, die Opel 2020 im Programm haben will, zählt neben dem E-Corsa, Grandland X PHEV und E-Vivaro (2020) trotzdem die GM-Entwicklung Ampera-e. Höhere Stückzahlen des reichweitenstarken Kompakten plant man aber nicht. Noch offen lassen die Rüsselsheimer, ob und wie man das Kleinstwagen-Segment künftig bedienen will. Ein Kleinstwagen taucht in der Zwei-Plattform-Strategie nicht auf, und: Opel hat bereits angekündigt, die Importe des Opel Karl aus Korea zu stoppen. Gut möglich, dass es keinen Nachfolger gibt. PSA produziert seine übrigen Kleinstwagen Citroën C1 und Peugeot 108 in Kooperation mit Toyota. Kompetenz für den neuen KonzernDarf Opels Entwicklungszentrum künftig also nur noch französische Technik konfigurieren? Das bestreitet Opel vehement. 15 technologische Kompetenzzentren hat PSA bisher in Rüsselsheim angesiedelt, eine ziemlich deutsche Angelegenheit: Den Begriff „Kompetenzzentrum“ kannte man bei PSA vorher so nicht. Neben Zukunftsthemen wie Wasserstoff und alternativen Kraftstoffen wird Opel künftig sämtliche leichten Nutzfahrzeuge für PSA entwickeln. Den Anfang macht 2019 ein neuer Vivaro auf EMP2-Basis. Danach dürfte eine Klasse darüber der Movano folgen. Darüber hinaus entwickelt Opel in Rüsselsheim eine neue Generation des 1,6-Liter-Benzinmotors (Prince), den PSA aktuell per Aufladung auf bis zu 270 PS bringt. Geplanter Marktstart: 2022. Der Downsizing-Strategie will man treu bleiben, Wünsche nach mehr Leistung werden wohl mit zusätzlichen Elektromotoren bedient. Ebenfalls vergab PSA die Zuständigkeit für manuelle Getriebe samt Kupplungen für den kompletten Konzern nach Rüsselsheim. Für viele eine aussterbende Komponentengattung, im kommenden Jahrzehnt aber noch unverzichtbar. Mit Autositzen bleibt außerdem ein langjähriges Opel-Steckenpferd in Rüsselsheim. 80 Prozent aller GM-Sitze kamen bereits von Opel. Unter dem Strich und mit Mark Twain: Die schon oft verbreitete Nachricht von Opels Tod scheint stark übertrieben. Das gilt für die Entwicklung in Rüsselsheim ebenso wie für die Fahrzeugfabriken in Polen, Deutschland, England und Spanien sowie die Komponentenwerke in Polen, Ungarn, Österreich und Deutschland. Sie werden schon bald PSA-Motoren und -Getriebe produzieren. Etwas übermütig träumen Opel-Techniker sogar schon wieder von einem „Coupé oder Cabrio". "Wir sind uns bewusst, dass noch viel Arbeit vor uns liegt", räumt Michael Lohscheller ein. Der Weg jedoch scheint klar vorgezeichnet. Klarer als oftmals unter amerikanischer Führung.
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