Uralt-Technik statt Assistenzsysteme: Manche Oldtimer-Fahrer nutzen ihren Klassiker im Alltag als Familienkutsche. Kann ein 30 Jahre altes Auto mit Neuwagen mithalten?
Von Haiko Prengel Berlin - Bei Familienautos sind sich Experten wie Autofahrer in der Regel einig: Die Fahrzeuge sollten viel Platz bieten und eine gute Sicherheitsausstattung aufweisen. Deutschlands größter Verkehrsclub ADAC etwa rät, auf einen Einklemmschutz bei elektrischen Fensterhebern sowie auf einen abschaltbaren Beifahrer-Airbag zu achten, wenn vorne ein Kindersitz installiert werden soll. Insofern hat Janine Dudenhöffer offenbar nichts falsch gemacht bei ihrer Fahrzeugwahl: Die zweifache Mutter kutschiert ihren Nachwuchs mit einem betagten Mercedes von 1982 durch den Berliner Stadtverkehr. Einen Airbag muss man in dem alten Benz der Baureihe W123 nicht erst umständlich abschalten, er hat ab Werk gar keinen an Bord. Und statt mit elektrischen Fensterhebern wird in der hansablauen Limousine noch klassisch mit der Hand gekurbelt. „Wir sind beide ein bisschen retro-affin“, sagt Dudenhöffer über sich und ihren Lebensgefährten. Die beiden haben zwei kleine Kinder. Normalerweise stehen bei den beliebtesten Familienautos Vans, SUVs und Kombis ganz oben. Sich stattdessen einen Oldtimer auszusuchen, ist eher ungewöhnlich. Carsharing war keine AlternativeDudenhöffer ist Redakteurin, zusammen mit vier Kolleginnen macht sie in der Hauptstadt das „Mummy Mag“, ein Lifestyle-Magazin für Familien. Langstrecken fliegen mit Kindern, Camping mit Kindern; Mobilitätsthemen spielen eine wichtige Rolle. Als Dudenhöffer zum zweiten Mal Mutter wurde und das Kind allmählich aus der Babyschale herauswuchs, musste die Familie plötzlich selbst auf die Suche nach einem passenden Fahrzeug gehen. Anfangs hatte die junge Familie noch auf Carsharing gesetzt, doch in einen Smart passen zwei Kindersitze bei bestem Willen nicht hinein. Auch bei größeren Leihautos wird es zu beschwerlich, wenn man ständig zwei Kindersitze zwischen Wohnung und Sharing-Mobil hin- und hertragen muss. „Da haben wir gesagt: Jetzt brauchen wir eine Familienkutsche.“ Die Mittelklasse-Baureihe W123 brachte Daimler 1975 auf den Markt. Es ist nicht nur bis heute das meistgebaute Modell des Herstellers, Kenner sprechen auch gerne vom „letzten echten Mercedes“. Das gilt insbesondere für den üppigen Chromschmuck, der den 123er ziert - der Nachfolger W124 war deutlich nüchterner gezeichnet. Aber auch bei Technik und Verarbeitung setzte der W123 Maßstäbe. Das wird allein schon deutlich, wenn man die Türen des Wagens zuschwingt. Das massive Blech fällt so satt ins Zapfenschloss, als würde man einen schweren Tresor schließen. Der hansablaue W123 von Janine Dudenhöffer ist ein 240 D. Unter der Haube nagelt ein 72 PS starker Saugdiesel. Ein gemächliches, aber überaus robustes Aggregat, für das sich früher gerne Landwirte entschieden. Neuer Standard beim FahrkomfortWas die Platzbedürfnisse einer vierköpfigen Familie betrifft, hätte sich natürlich besonders ein 123er T-Modell geeignet. Der T (für „Tourismus und Transport“) war der erste serienmäßige Mercedes-Kombi, 1978 kam der S123 auf den Markt. Heute gilt er als einer der Urväter des modernen Lifestyle-Kombis, denn vom üblichen Handwerkerkombi setzte sich ein S123 in Sachen Komfort stark ab. „Doch die T-Modelle sind schwierig zu bekommen“, sagt Janine Dudenhöffer. So schlimm sei das aber gar nicht, denn das Raumangebot in der Limousine ist erstaunlich gut: Neulich verstaute die 38-Jährige im Kofferraum einen Kinderwagen nebst Kinderfahrrad. Alternativ könne man dort aber auch bequem vier Kästen Bier unterbringen, ist in Testberichten zum W123 zu lesen. Janine und ihr Partner Alexander hatten sich auf der Suche nach einem Familienauto durchaus auch nach modernen Modellen umgesehen. In Großraumlimousinen wie dem Seat Alhambra beispielsweise kann man sogar drei Kinder samt Sitzen auf der Rückbank vergurten. Doch da seien diese schönen Kindheitserinnerungen, sagt Janine Dudenhöffer. Schon die Großmutter der gebürtigen Pfälzerin fuhr Mercedes W123. Heute gehört der W123 zu den populärsten Klassikern in Deutschland, nur vom VW Käfer sind noch mehr Fahrzeuge zugelassen. In Sachen Fahrkomfort, aber auch bei der Sicherheit trennen beide Oldies Welten: Während der Käfer mit seiner Kippneigung und der Pendelachse ein ständiges Unfallrisiko birgt, setzte der Mercedes W123 vor 40 Jahren neue Sicherheitsstandards, vor allem mit seiner äußerst stabilen Fahrgastzelle und den großen Knautschzonen. Ab Anfang der Achtzigerjahre waren gegen Aufpreis innovative Extras wie Antiblockiersystem und Airbags erhältlich. Anfang der 90er ausgereift?Einige Jahre später wurden diese Innovationen Standard, auch bei anderen Herstellern. Die Rostvorsorge wurde mit zumindest teilverzinkten Karosserien besser, Getriebe und Motoren sehr zuverlässig. Viele sagen daher heute, dass die Autos schon Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger ausgereift gewesen seien. Einen Opel Senator B oder BMW 5er E34 zu fahren, fühlt sich jedenfalls bis heute nicht so an, als führe man ein technisch veraltetes Auto. W123-Liebhaberin Janine Dudenhöffer hält aus einem anderen Grund nichts von Neuwagen. Einmal vom Hof des Autohauses gefahren, sei das Fahrzeug nur noch die Hälfte wert, erklärt sie. Hinzu komme der ökologische Aspekt, die Ressourcenvergeudung bei der Herstellung von immer neuen Automobilen sei immens. „Ich finde, wir kaufen viel zu viele Neuwagen“, betont Dudenhöffer. „Dabei gibt es so viele gut erhaltene Gebrauchtwagen.“ Manche sind über 35 Jahre alt wie ihr hansablauer Mercedes W123. Den schmucken 240 D mit nur 72.000 Kilometern Laufleistung entdeckte ein Bekannter der Familie, der sich auf das Aufstöbern von Klassikern in besonders gutem Zustand spezialisiert hat. Den rostfreien 240 D fand er in Spanien, wo er zuvor von einem älteren Herrn gefahren und augenscheinlich mit viel Hingabe gepflegt worden war. „Eine echte Perle“, sagt Janine Dudenhöffer über das Auto, ihr Auto. Strapazierfähiges MB-TexTatsächlich ist der Zustand des Fahrzeugs hervorragend. Die Bleche sind frei von Korrosion, der Chromschmuck glänzt beinahe wie am ersten Tag. Und erst der Innenraum: Der Bodenbereich ist mit feinem hellbraunen Teppich ausgelegt, der als Spielteppich auch im Kinderzimmer eine gute Figur machen würde. Die Sitze sind mit MB-Tex-Kunstleder gepolstert, in sie kann man sich fläzen wie in Großmutters Fernsehsessel. Der Vorteil von MB-Tex: Das Material lässt sich weitaus einfacher reinigen als etwa Velours – sei es von Kekskrümeln, Saftspritzern oder sonstigen Rückständen, die Kleinkinder auf längeren Fahrten im Auto hinterlassen. Auch hier erfüllt der Oldie die Empfehlungen des ADAC, der rät zu „strapazierfähigen Materialien, die leicht abgewischt werden können“. Wenn die Kinder angeschnallt sind, muss Janine Dudenhöffer nur noch den alten Saugdiesel starten und immer dem Stern auf dem Kühlergrill hinterhernageln. „Der brummt so schön“, schwärmt die Oldtimer-Fahrerin. „Und ich bilde mir ein, dass die Kinder dadurch besser schlafen.“ Für sie gibt es kein besseres Familienauto als ihren Mercedes W123. |