Das neue Ducati-Superbike ist das teuerste, ehrgeizigste und radikalste Projekt der Firmengeschichte. Das in sehr begrenzte Texte zu passen heißt, praktisch alle Details fallen lassen. Deshalb hier ein ausführliches Testprotokoll des Bike of the Year 2012.
Die Panigale ist außer den oben genannten Aspekten noch das merkwürdigste und interessanteste Motorrad des Jahres, und weil das so ist, hat sich mein Da-Sein auf dieser Präsentation für mich genauso wie für Ducati ziemlich gelohnt, denn ich schreibe für vier Kunden über diese Maschine und habe heute schon zwei Deadlines hinter und eine direkt vor mir. Die abgegebenen Texte haben einen unvorhergesehenen Aspekt gezeigt, denn ich wurde (mehrfach!) gefragt: “Samma, findest du das Motorrad eigentlich scheiße?” Um Gottes Willen! Nein. Ich habe Liebes– und Hassaspekte erklärt und ganz offenbar gab es ein Problem mit too much data. Es gibt im fixen Rahmen eines schönen Print-Artikels keinen Raum, auf Details einzugehen, also priorisiert der Schreiber. Ein nichtiges Detail kann subjektiv riesig werden, wenn man es erklären muss. Aber hier, online, möchte ich zwei Dinge tun, die ich Kunden nicht verkaufen kann: Erstens möchte ich eine umfangreiche Liste von Dingen als Liste durchgehen, die mir aufgefallen sind, und zweitens möchte ich das tun, solange es eben dauert. Vielleicht kann ich dem Motorrad damit ein bisschen gerechter werden.
Chassis
Hier musste etwas passieren. Der Stahlgitterrohrrahmen über dem liegenden L-Motor war für ein RSV4-Handling nicht zu biegen. Es gab nur die Wahl zwischen wieder eine stabile Bank nach traditionellem Muster zu bauen oder etwas gänzlich Neues anzufangen. Sie hätten einen engeren Zylinderwinkel bauen können wie KTM oder Aprilia. Stattdessen haben sie alles weggeschmissen, wofür Ducati mal stand und ein knackiges Chassis um den verstärkten Motor gebaut: Hilfsrahmen vorne mit Airbox drin, Heckrahmen an den hinteren Zylinderkopf geschraubt, Schwinge im gemeinsamen Gehäuse von Motor und Getriebe gelagert. Das fährt so anders als jede Ducati vorher, wie es sich anhört:
- Der Kraftaufwand zum Umlegen ist minimal. Das liegt am Gewicht, das liegt an den für einen besseren Hebel anders angeschellten Lenkerstummeln, das liegt aber vor allem an einer neuen Geometrie, die vorher nicht möglich gewesen wäre.
- Die Ergonomie ist genial gut geworden. Es ist wie auf einer RSV4, nur in schmaler, leichter, besser. Man sitzt obendrauf mit viel kürzerem Abstand zwischen Arsch und Händen als bei der 1198, und keiner zeigte nach einem Fahrtag Ermüdungserscheinungen. Es ist erstaunlich. Es passt selbst oder vor allem für Große, die dann nur komisch aussehen auf dem kompakten Motorrad.
- Das Fahrwerk verzeiht mehr. Die sehr verwindungssteifen Gitterrohrmodelle hatten so Momente, in denen sie bös werden konnten.
- Der Motor als tragendes Element kriegt bei Stürzen die Kräfte ab, die sonst der Rahmen abgefangen hätte.
- Das Vorderrad fühlt sich für mich seltsam an. Es sind einige, auch die besten Fahrer, übers Vorderrad gerutscht, einer ist gestürzt. Es könnte am Überenthusiasmus liegen, mit der man die Panigale in die Ecken wirft, weil man es kann, es könnte ein imaginäres Problem sein, ich weiß es nicht. Es könnte auch an der Balance zwischen 200er hinten und 120er vorne liegen. Im direkten Vergleich verschwindet das Problem sofort, wenn man von den Supercorsas auf Rennreifen umsteigt. So eine Kritik kann man halt nirgends schreiben, weil alle außer mir Fernsehen gucken und es mit Rossi in Verbindung bringen, habe ich mir sagen lassen. Deshalb zitiere ich zur Beruhigung Troy Bayliss: “Macht euch mal keine Sorgen über die Probleme der MotoGP. Das ist das beste Motorrad, das ich auf der Bremse und am Kurveneingang je gefahren bin. Es ist in der Bremszone superstabil und lenkt dann viel besser ein als die 1198. Du kannst allein auf der Bremse schon Zeit gutmachen.” Troy fuhr auf dem Panigale-Rennmotorrad bei seinem dritten Test 0,7 Sekunden schneller als auf dem 1198-Superbike.
- Die automatische Dämpfereinstellung wird wie bei der Multistrada jeder haben wollen, weswegen Ducati jeden dafür am Geldbeutel bluten lässt.
- Über die Dämpfungsqualitäten des Fahrwerks der S kann man wenig sagen, weil die Teststrecke in Abu Dhabi keine einzige Bodenwelle hat. Die Geometrie funktioniert jedenfalls grandios.
- Es ist zugänglicher geworden, Ducati zu fahren. Die Panigale macht es dem Fahrer, selbst dem Schlechtfahrer wie die BMW S 1000 RR tatsächlich einfach, mit ihr zu verschmelzen und dann als erweitert wahrgenommener Körper die Strecke zu umrunden.
- Die Cartridge–Gabel hat Gleitrohre aus Alu. Echt jetzt.
- Wie bei der KTM RC8 R kann man außer Federbasis auch das Niveau und die Umlenkung einstellen. Konkret kann man von einer progressiven Betätigung für den Straßenbetrieb zu einer linearen für den Rennstreckenbetrieb wechseln. Wer sich gut auskennt, wird das super finden.
Motor und Antrieb
Dieser Motor ist der mit großem Abstand extremste Zweizylinder am Markt. Er hat ein Verhältnis von Bohrung zu Hub von 1,85. Seine Kolben sind größer als Bierdeckel und flacher als Frikadellen. Es ist unglaublich, dass das überhaupt funktioniert, und es funktioniert wie das Chassis anders als bei jeder vorherigen Ducati. Es fühlt sich gar nicht mehr an wie ein Zweizylinder, es erinnert eher etwas an den V4 der Desmosedici oder, wer den nicht kennt (*angeb*): an den V4 der Aprilia RSV4.
- Die extreme Kurzhubigkeit des “Superquadro”-Motors merkt man ihm an. Im mittleren Teil des Leistungsbands hat er zehn bis zwanzig PS weniger als die 1198 (siehe Leistungskurve, die 1198 ist rot), danach baut er ein brutales Drehmomentplateau auf, an das man sich erstmal gewöhnen muss. Ich fand es tricky, das gewünschte Drehmoment am Hinterrad vom Gasgriff aus einzustellen. Auf jeden Fall will, ja: muss dieser Motor drehen. Schaltfaules Verlassen auf Zweizylinderdruck in der Mitte führt zum sehr ungewohnten Verhungern aus dem Eck heraus.
- Das Drive-by-Wire funktioniert wie bei der RSV4 sehr gut. Es hat Ducati erlaubt, im unteren Teillastbereich die Drosselklappen einzeln unterschiedlich weit zu öffnen, um den dortigen Unterschieden in der Gasdynamik gerecht zu werden.
- Es hat Ducati außerdem erlaubt, die Traktionskontrolle massiv zu verbessern. Die 1198 nahm das Drehzahlsignal von ein paar verfügbaren Schrauben ab, und das war grob. Die 1199 nimmt die Drehzahlsignale von den wesentlich feiner auflösenden ABS-Zahnkränzen ab, gleicht das Signal mit der Schräglagensensorik ab (siehe BMW und Aprilia) und regelt dann sehr sanft zu über 95 Prozent über die Drosselklappen (siehe ebenfalls BMW und Aprilia). Die TK ist damit ein großer Schritt nach vorne. Sie ist aber nicht so gut die die der Aprilia RSV4 Factory APRC. Die anwesenden Rennfahrer wünschten sich außerdem mehr Schlupf, als ihnen selbst das schlüpfrigste der acht Settings geben wollte.
- Ducati sagt: “Das ist der vielleicht beste Motor, den du in einem Motorrad finden wirst.” Und ich bin geneigt, ihnen schon allein vom puren Unterhaltungswert her zuzustimmen.
- Das EBC (“Engine Brake Control”) braucht kein Mensch. Es gibt in der Bremszone Gas, um das Motorbremsmoment zu reduzieren. Jeder hat es entweder auf die kleinste Stufe gedreht oder abgeschaltet, denn die Panigale hat eine gute mechanische Anti-Hopping-Kupplung, die weniger irritiert und besser funktioniert.
Bremsanlage
Ducatis Panigale verwendet die von der 1198 bewährte bis gefürchtete Brembo-Anlage mit den 330er Scheiben vorne. Die Ingenieure haben einige Details an den Sätteln geändert, um sie bei gleicher Leistung leichter zu machen. Das Motorrad wird in Deutschland zudem serienmäßig mit dem Bosch-ABS 9ME angeboten, das hinten mitbremsen, und verschiedene Settings abrufen kann. Ducati bietet drei Settings zur Auswahl: 2 & 3 für die Landstraße mit Integralbremsung und Setting 1 für die Rennstrecke, in dem nur das Vorderrad gebremst und geregelt wird und es auch keine Überschlagserkennungsversuche oder –regelung gibt.
- Setting 2 funktioniert auf der Rennstrecke überhaupt nicht. Der Bremsweg ist im Regelbereich vollkommen unberechenbar. Derselbe Bremspunkt kann an zwei aufeinanderfolgenden Runden entweder viel zu früh sein oder oder einen in ohnmächtiger Unterbremsung in den Kies schicken. Setting 3 regelt noch früher. Und wenn das auf der gebügelt ebenen Wüstenrenne so ist, könnt ihr euren Arsch drauf verwetten, dass es bergab auf die wellige Alpenkehre zu schlimmer ist. Deshalb:
- Setting 1 benutzen. Das bremst und regelt zwar hinten nicht (schade), dafür greift es wirklich nur noch ein, wenn das Rad blockiert, also bei Glitsch oder einer Schreckbremsung. Ducati hat für Setting 1 die Überschlagsschätzung weggelassen, weil die eh nie funktioniert, und das war das einzig Richtige.
- Für ein reines Rennstreckenmotorrad täte ich das ABS ausbauen. Der Druckpunkt wird besser und das Motorrad 2,5 kg leichter.
- An der rohen Bremsleistung gibt es wenig verwunderlich nichts zu meckern. Die Bremse wandert nicht, liefert zuverlässig höchste Leistungen und der im Vergleich zur 1198 weichere Druckpunkt (ABS) stört auf der Rennstrecke auch nicht.
Cockpit und Elektronikverwaltung
Ducati sind die größten Hightech-Fans auf der Welt. Sie haben die meisten Dinge, die BMW an die große Glocke hängt, gleichzeitig als Neben-Event irgendeines haarsträubenden Gaga-Motorrads. Zum Beispiel den brilliantesten TFT, den man in Stückzahlen kaufen kann. Der war zuerst an BMW K 1600 GT und Ducati Diavel und den hat auch die Panigale. Mit den Bedienelementen vom Lenker aus kann man hier die Regelstärke aller elektronischen Systeme einstellen und für Kunden des DES (“Ducati Electronic Suspension”) auch die Dämpfer. Du kannst dir hier einen Cockpit-Simulator der Panigale herunterladen. So zur besseren Vorstellung.
- Das Display ist super. Es ist selbst bei direktem Sonnenschein lesbar.
- Die Bedienung ist so mittel. Es gibt keine Alternative, als sich durch die Menus zu wurschteln, wenn man etwas einstellen will. Dabei wäre es im Prinzip sehr einfach gewesen, wie Aprilia Funktionen auf Plus-/Minus-Taster zu legen: “Ich hätte gern eine Stufe weniger Traktionskontrolle jetzt.” -> klick.
- Viel der Elektronik ist in der jetzigen Auslegung eher gut fürs Marketing als wirklich fürs Fahrerlebnis. Siehe weiter oben im Text ABS und EBC.
- Es gibt drei Fahrmodi, die je ein Set von Einstellungen umfassen. Man kann diese Einstellungen beliebig ändern und speichern. Es ist zum Beispiel möglich, auf “Wet” einfach das Setting für Oschersleben zu legen oder die Fahrwerkseinstellungen für einen zweiten Fahrer beim Langstreckenrennen. Die Panigale merkt sich immer ihre Originalsettings, auf die man jederzeit zurückkehren kann (“Default” auswählen). Es gibt jedoch nur drei Modi, mehr anlegen geht nicht, genausowenig wie Einstellungs-Sets auf den Laptop ziehen und weitergeben.
- Es gibt ein neues Data Recording (DDA+), das außer den schon vorher vorhandenen Krad-Parameterkanälen wie Drehzahl und Drosselklappenwinkel auch einen GPS-Laptimer hat, sodass man automatisch Rundenzeiten messen lassen kann wie bei GPS-Laptimern aus dem Zubehör. Der Onboard-Speicher der 1199 ist 16 MByte groß, das sollte für mindestens fünf Stunden Aufzeichnung langen.
- Komplette LED-Beleuchtung. Ja, auch die Lampen vorne. Das ist erstens vibrationsfest und leicht, das sieht jedoch zweitens sehr futuristisch aus.
Fahrzit und Einschätzung
Es ist mir egal, was alle und Clemens schreiben. Ich will einfach Panigale fahren.
Das angesichts des Elektronik-Fests Erstaunliche an der Panigale war, dass sie immer besser wurde, je mehr wir die Elektronik zurückgefahren oder gar abgeschaltet haben. Das liegt daran, dass sie unter ihrer schlagzeilenmachenden Elektronik eben ein geniales mechanisches Meisterwerk ist. Wie bei der Multistrada will man vom ganzen Spielzeug hauptsächlich Eines: die elektronische Fahrwerkseinstellung DES. Wie bei der Multistrada will man jedoch vor allem das Motorrad haben. Und wie bei der Streetfighter bestellen die Kunden schon unbesehen vor. Es ist im Prinzip egal, was wir alle schreiben. Es ist selbst mir egal, was ich selber schreibe, ich will sie so oder so haben.
Meine Einschätzung für die Rennstreckenraser ist, dass die Panigale im Geschlängel selbst die RSV4 hinter sich lässt, weil sie geometrisch vergleichbar wendig, aber viel leichter ist. Auf den Geraden wird jedoch selbst die BMW oder Kawas Zehner nicht relevant wegziehen können, und deshalb schätze ich die Panigale auf demselben Fahrer schneller ein als alle drei genannten.
Am schönsten finde ich aber, dass sie ein ehrliches Motorrad ist. Sie sieht aus wie eben aus dem Weltraum gelandet. Sie ist das auch. Sie sieht wie ein Erlebnis aus. Sie ist eines. Sie sieht aus, als wollte man sie haben. Man will sie. Man will sie mit der Stärke eines Triebes.
Ducati 1199 Panigale MJ 2012
Ist: aus der Zukunft.
Kostet: 19.490 in der Basisversion, 24.490 S-Version mit DES, 28.690 Tricolore-Edition mit DES und DDA+
Leistet: 195 PS (143 kW) bei 10.750 U/min
Stemmt: 132 Nm bei 9.000 U/min aus 1199 ccm
Wiegt: 188 kg leer fahrbereit (sagt Ducati). ABS wiegt 2,5 kg.
Tankt: 17 Liter Super
Hat: mich mit ihrer schieren Andersartigkeit in Erklärungsnot gebracht.
Quelle: Mojomag