Irres Drehmoment, doch richtig viel Gewicht: Was kann ein potentes E-Autos auf der Rennstrecke, was muss sein Fahrer können? Tracktest im 400 PS starken Jaguar I-Pace.
Lagos – Zugegeben, ein 2,2 Tonnen schweres Elektro-SUV ist nicht die logische Wahl für die Rennstrecke. Aber sehen wir es mal so: Falls der E-Motor einst tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft ankommt, werden Stromer dem urbanen Hipster-Dreieck zwischen Biomarkt, Yoga-Studio und Veggie-Laden entkommen. Sehr viele Autofans würden tun, was sie auch bis dahin mit Autos taten. In manchen Fällen also: Heizen. Auf Landstraßen, Bergrouten - und ja, manchmal auch auf einer Rundstrecke. Unter den aktuellen Modellen mit Stromstecker spricht der 400 PS (294 KW) starke Jaguar I-Pace die "Neigungsgruppe Grenzbereich" am ehesten an - abgesehen vielleicht von den Top-Teslas P100D. Und unter Ausklammerung sündhaft teurer Kleinstserien-Flundern wie dem Rimac C2. Also, einsteigen in das etwas hohe Elektro-Sport-SUV. Allein diese Eigenschaftsaneinanderreihung wird mich noch eine Zeit lang belasten. Allein Sport-SUV stößt Rennsportlern auf. Elektro-Sport, ok, summt sich in der Formel E durch Europa. Aber Elektro-Sport-SUV? Was kommt als nächstes? Fleischfreie, fettfreie, tierfreie Wurst? Ach, gibt es auch schon. Egal. Ich drücke die D-Taste an der Mittelkonsole und rolle im ersten elektrischen Jaguar-Modell lautlos aus der Boxengasse. Raumschiff mit AllradStrecke frei, Gas. Volles Drehmoment von Beginn an, das kickt in jedem Elektroauto. Selbst im völlig unsportlichen Nissan Leaf. Im Jaguar sorgen zwei E-Motoren für insgesamt 696 Nm. Die Permanentmagnet-Synchronmotoren sind jeweils im Bereich einer Achse untergebracht, leiten die Kraft über kompakte Eingang-Getriebe weiter. Das ermöglicht Allradantrieb mit denkbar freier Kraftverteilung zwischen Vorder- und Hinterrädern. Liest sich kompliziert, fährt sich aber fabelhaft. Die Geräuschkulisse überrascht. Dieses Surren unter Volllast, angesiedelt irgendwo zwischen Raumschiff Orion und Staubsauger-Roboter. Das sei kein technisch bedingtes Übel, sondern ein akustisches Feature- erklärt mir später ein Ingenieur. Vollgas ohne Lärm sei eben für viele ungewohnt, der Sound kommt zum Großteil aus den Boxen. Wer sich in die Untiefen des Bordcomputer-Menüs begibt, kann das Summkonzert deaktivieren. In der ersten Kurve verliert der Klang jegliche Bedeutung. Wer sich auf Brems- und Einlenkpunkt konzentriert, hat keine freien kognitiven Kapazitäten. Auf den folgenden fliegenden Runden kümmert einen der Sound allenfalls auf der langen Start-Ziel-Geraden - wo es nichts zu tun gibt, außer den Digital-Tacho auf dem Weg zum Höchsttempo von 200 km/h (abgeregelt) gedanklich anzufeuern. Lenkung gerade und ab dafürQuelle: Jaguar So schnell bin ich längst nicht: Herausbeschleunigen aus Kurve vier, einer ewigen 180 Grad-Wende. In mittelschnellen, langgezogenen Kehren verlangt der Stromer nach viel Selbstbeherrschung am Gas. Klar, man müsste das Pedal nicht sofort nach dem Scheitelpunkt aufs Bodenblech pressen. Zügig mit konstanter Gasstellung zum Auslenkpunkt, Räder gerade stellen und ab dafür – das wäre wohl die schnellste Variante. Der Drehzahlbereich (bis zu 13.000 Umdrehungen der Welle sind denkbar) spielt beim E-Auto ohnehin keine Rolle. Aber so sachlich analysiert man Situationen mit Helm auf dem Haupt und Adrenalin im Blut nicht immer. Ab einem gewissen Schräglauf-Winkel gäbe es Unterstützung. Das Stabilitätsprogramm schläft im I-Pace nie, kann aber recht phlegmatisch gestellt werden. Wir wählen den scharfen Dynamic-Modus. Hier bietet das Volant mehr Widerstand, die Übersetzung wird direkter. Der 4,68 Meter lange I-Pace fühlt sich in der geschwungenen Sektion der Strecke agil an. Leichtes Lupfen im Mittelteil der Kurve lässt das Heck etwas mitlenken. Nennenswertes gezieltes Übersteuern oder Drift-Verlängerung per Gasstoß toleriert der Jag auf trockenem Asphalt nicht. Tiefer SchwerpunktBremste beim schnellen Überstrapazieren der Reifen das serienmäßige Torque-Vectoring-System oder das Stabilitätsprogramm das Übersteuern? Schwer zu beantworten. Genau so wie die Frage, ob die geringe Rollbewegung der Karosse nun dem ausgleichenden Luftfahrwerk zu verdanken ist. Oder doch - wie Jaguar sagt - der grundsätzlichen Konzeption dieses Autos. Der I-Pace wurde als reiner Stromer entwickelt. Sein 90-kWh-Akku steckt weit unten, zwischen den Motoren in der Bodengruppe. Entsprechend liegt der Schwerpunkt niedriger als bei Verbrennern. Freilich: Ähnlich große Benziner im selben Leistungsbereich bleiben dafür normalerweise unterhalb der 2-Tonnen-Marke. Quelle: Jaguar Spätes Anbremsen über die blinde Kuppe im letzten Teil. Die Bremsanlage kommt mit dem korpulenten Engländer gut zurecht. Nicht nur an dieser Stelle, nicht nur in dieser Runde. Der Druckpunkt ist wegen des etwas schwammigen Pedalgefühls schwer zu finden. Er bleibt aber – wie die Bremsleistung – relativ konstant. Im Straßenverkehr verzögert man öfter über das Gaspedal: One-Pedal-Driving. Nachlassen heißt rekuperieren, heißt bremsen. In der höheren der beiden Stufen ganz schön ordentlich, Jaguar gibt bis zu 0,4 G Verzögerung an - ein Wert, bei dem die bis zu fünf Insassen schon merkbar ihre Gurte spüren. In den ersten Runden wähle ich die zahmere Rekuperationsvariante, aus Sorge vor der Auswirkung des abrupteren Lastwechsels. Später ist klar: Auf der Rennstrecke ist der Unterschied marginal. Weil man vor den meisten Kurven ohnedies direkt vom Gas auf die Bremse springt. Und wenn leichtes Nachlassen vor eine Sektion langt? Stellt man sich recht schnell um. Außerdem ist der Effekt bei höherem Tempo geringer. 480 Kilometer Reichweite - aber sicher nicht soQuelle: Jaguar Es geht hinaus auf die Start-Ziel-Gerade, vorbei an der Ausfahrt, zurück in die Boxengasse. Für einige weitere Runden. Bei gefühlt gleichbleibender Power. Warum das erwähnenswert ist? Tesla-Modelle sollen beim Rennstrecken-Einsatz die Leistung drosseln, um Temperatur-Problemen vorzubeugen. Beim I-Pace verbaute Jaguar eigene Kühlsysteme für Akku-Pack und Motor. Im Extremfall könnte noch Kühlmittel aus der Klimaanlage des Fahrgastraumes abgezweigt werden. Irgendwann deutet der Instruktor am Beifahrersitz zur Einfahrt Richtung Boxengasse. Schade, Strom hätten wir noch. Bei voller Attacke auf der Rennstrecke besteht freilich keine Chance auf die vom Hersteller angegebenen 480 Kilometer Reichweite (gemessen im WLTP-Zyklus). Später, bei ziviler Fahrt auf öffentlicher Straße, wird der Bordcomputer einen Energieverbrauch von rund 25 kWh pro 100 Kilometer anzeigen. Nach etwas Druck auf einer Serpentinen-Strecke auf knapp 30 kWh korrigieren. Jetzt, auf der Piste, ist die Zahl beinahe doppelt so hoch. Startpreis: 77.850 EuroQuelle: Jaguar Bei gesitteter Fahrweise im Alltag kann man beim I-Pace schätzungsweise von rund 380 bis 400 Kilometern tatsächlicher Reichweite pro Akku-Ladung ausgehen. Vielleicht lässt sich über den Eco-Fahrmodus noch ein wenig mehr rausquetschen, doch im Idealfall befindet man sich spätestens dann in der Nähe einer 100-KW-Schnellladesäule, wo sich der Akku in 40 Minuten auf bis zu 80 Prozent befüllen lässt. An der 50 KW-Station dauert es doppelt so lange. Die Wallbox-Ladedauer gibt Jaguar nur ungefähr an, Voll-Laden sei über Nacht möglich. In absehbarer Zeit werden E-Autos wohl weiterhin an Reichweite und Ladedauer gemessen, nicht an ihrer Rennstrecken-Performance. Und verstärkt umweltbewussten Käufern sowie Early Adoptern ohne sportfahrerischen Anspruch gefallen. Aber gelegentlich, wenn sich die Landstraße windet und die Übersicht ausreicht, wird man ein I-Pace-Modell druckvoll den Kurvenradius entlang stromen sehen. Weil es mit dem elektrischen Jag passabel funktioniert. Manchmal anders als gewohnt, aber immer unterhaltsam. Der I-Pace startet bei 77.850 Euro, dann allerdings ohne Adaptiv-Fahrwerk, Glas-Panoramadach und Performance-Sitze unseres Testmodells. Bis auf das Gestühl entspricht dieses weitestgehend der First-Edition-Ausführung ab 101.850 Euro. Sie ist genau ein Jahr lang erhältlich, im Sommer 2019 ist Schluss. Mal sehen, wie wir zu diesem Zeitpunkt über E-Autos auf Rennstrecken denken werden. Jaguar I-Pace: Technische Daten
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