Medienberichten zufolge tricksen die Autohersteller wieder beim Abgas. Um ihre CO2-Ziele für 2025 und 2030 leichter zu erreichen, würden sie jetzt erhöhte Werte angeben.
Von Heiko Dilk und Constantin Bergander Brüssel/Düsseldorf – Neue Tests, neue Abgastricks? Laut Medienberichten sollen Autohersteller falsche Werte für Verbrauch ihrer Autos angeben. Wie das „Handelsblatt“ und die „Financial Times“ berichten, hegt die EU-Kommission den Verdacht, dass sie den CO2-Ausstoß ihrer Fahrzeuge künstlich erhöhen. Der „Spiegel“ hatte bereits im Juni diese Möglichkeit aufgeführt. Was unlogisch klingt, könnte bei genauerem Hinsehen Sinn ergeben. In den kommenden Jahren will die EU den CO2-Flottenausstoß prozentual reduzieren. Die EU hat vorgeschlagen, dass die Flotten 2025 um 15 Prozent weniger CO2 ausstoßen sollen als 2021. Im Jahr 2030 sollen es 30 Prozent weniger sein. Gemessen werden diese Werte im neuen, realitätsnahen WLTP-Zyklus. Derzeit wird der Verbrauch aber noch im NEFZ-Zyklus angegeben. Der Abgastrick funktioniert durch die Umstellung von NEFZ auf WLTP. Konkret lautet der Vorwurf: Hersteller geben niedrige (aber normgerechte) NEFZ-Werte an. Bis zum Jahr 2021 muss die Flottenemission auf 95 Gramm CO2 pro Fahrzeug und Kilometer (zuzüglich Toleranz für schwere Autos) sinken, sonst drohen Strafzahlungen. Zeitgleich deklarieren die Hersteller künstlich hohe WLTP-Werte, um keine Probleme mit kommenden Grenzwerten zu haben. Vorwurf: Zu hohe CO2-Angaben durch die HerstellerQuelle: dpa/picture-alliance Hintergrund für die Berichte ist ein sogenanntes „Non-Paper“, ein inoffizielles Dokument der EU. Es beruft sich auf Daten von Homologationsprozessen, informelle Angaben von Prüfern und WLTP-Messungen von Dritten. Das Dokument liegt MOTOR-TALK vor. Bei insgesamt 114 Datensätzen seien Unterschiede zwischen den von den Herstellern angegebenen und den tatsächlich gemessenen WLTP-Werten aufgefallen. Die Messdaten hätten im Schnitt 4,5 Prozent niedriger gelegen, in einem Fall sogar 13 Prozent. Zudem hätten einige WLTP-Prüffahrten unter widrigen Bedingungen stattgefunden. Ein niedriger Ladestand der Batterie habe den Verbrauch erhöht oder die Start-Stopp-Automatik wurde deaktiviert. Die Motordrehzahl soll zum Teil zu hoch gewesen sein, außerdem habe man in einem Fall eine eigene Schaltstrategie eines Automatikgetriebes für den WLTP-Zyklus festgestellt. Damit die hohen WLTP-Werte nicht das 95-Gramm-Ziel gefährden, sollen NEFZ-Prüffahrten unter besseren Bedingungen oder mit entsprechend optimierten Fahrzeugen stattfinden. Ausgelastete Prüfstände und das "Co2mpass-Tool"Der Verband der deutschen Automobilhersteller (VDA) weist die Vorwürfe zurück. Er bezieht sich in seiner Argumentation darauf, dass die EU ein Umrechnungstool von WLTP- auf NEFZ-Werte bereitstellt („Co2mpass-Tool“). In diesem Fall hängen WLTP- und NEFZ-Werte direkt voneinander ab. Steigt einer, steigt der andere ebenfalls. Es ist schwer nachvollziehbar, ob ein Hersteller dieses Tool tatsächlich benutzt. Das Kraftfahrtbundesamt erteilt darüber keine Auskunft. Auf unsere stichprobenhafte Anfragen antworteten bei BMW, Audi und Mercedes, dass es sich bei neu homologierten Werten um umgerechnete WLTP-Angaben handle. Die Aussage deckt aber nicht die gesamte Automobilbranche ab. Der VDA schreibt lediglich, es würden „etliche Fahrzeuge bereits mit dem neuen Messverfahren WLTP getestet“. Die Hersteller geben an, keine Zeit für zusätzliche NEFZ-Prüffahrten zu haben. Ab dem 1. September 2018 gilt eine neue Abgasnorm (Euro 6c). Alle Modelle, die bisher nur Euro 6b erfüllen, müssen dafür neu zugelassen werden. Prüfstände sind dauerhaft im Einsatz und vollständig ausgebucht. Autobauer reduzieren temporär ihre Angebotspalette. Das bedeutet wirtschaftliche Nachteile. Peter Mock, Managing Director der Organisation International Council of Clean Transportation (ICCT) in Deutschland, wies im Gespräch mit MOTOR-TALK jedoch auf einen großen wirtschaftlichen Vorteil hin. Die Hersteller hätten später weniger Entwicklungsaufwand, um neue CO2-Grenzwerte zu erreichen. Dafür könne man sogar Lieferengpässe in Kauf nehmen. Real würde der CO2-Ausstoß zwischen 2021 und 2025 so nur um etwa die Hälfte der angepeilten 15 Prozent sinken, schätzt Mock. Der Zulassungsprozess im DetailQuelle: dpa/picture-alliance Um Vorwürfe, Differenzen und Lösungsvorschläge zu verstehen, muss man den Zulassungsprozess kennen: Wenn ein Hersteller ein Auto homologieren will, muss er Zielwerte für den CO2-Ausstoß laut WLTP definieren, den sogenannten "Manufacturer declared Value" (MDV) – jeweils für die verbrauchsärmste (leicht, schmale Räder) und durstigste Variante (voll ausgestattet) jeder Motor-Getriebe-Kombination jedes Modells. Entsprechende Autos müssen diesen Wert auf dem Prüfstand verifizieren. Zur Einordnung: Allein für den VW Passat stünden etwa 80 Kontrollläufe auf dem Prüfstand an – falls alles beim ersten Mal funktioniert. Hinzu kommen interne Tests, bei jedem Hersteller und jedem Modell. Praktisch finden dennoch weiterhin NEFZ-Testläufe statt. In Russland gilt der Zyklus beispielsweise weiterhin. Wer hier ein Auto zulassen will, muss es nach NEFZ prüfen. Wenn die Autos beim Lauf auf dem WLTP-Prüfstand weniger verbrauchen als angekündigt, gilt der Test als bestanden. Dann wird jedoch nicht der gemessene, sondern der vorher angegebene Wert für die Typzulassung verwendet – sowohl für WLTP, als auch als Umrechnungsbasis für NEFZ. Das heißt: Autos verbrauchen während des Homologationsprozesses womöglich weniger Kraftstoff (und stoßen damit weniger CO2 aus), als der Hersteller tatsächlich angibt. Hier entsteht der im Papier angegebene Unterschied von 4,5 (bzw. maximal 13) Prozent. Ein Brancheninsider wies im Gespräch mit MOTOR-TALK darauf hin, dass es bei Prüfstandsmessungen stets leichte Abweichungen gibt. Bei einem weiteren Prüflauf könnte der gemessene Verbrauch also näher am angegebenen liegen – oder weiter weg. Eine mit Homologationstests vertraute Person sagte MOTOR-TALK, dass eine abgeschaltete Start-Stopp-Automatik zum Abbruch der Messung führt. Wenn sie im Auto vorhanden ist, muss sie aktiviert sein und funktionieren. Mehrverbrauch durch eine leere Batterie wird über die sogenannte Strombilanzkorrektur rechnerisch ausgeglichen. Die unterstellten Tricks dürften also nicht funktionieren, wenn bei der Prüfung alle Regeln eingehalten werden. Ein hoher MDV laut WLTP ist jederzeit möglich. Wenige Fälle, trotzdem LösungsvorschlägeQuelle: dpa/picture-alliance Derzeit ist nicht bekannt, welche Hersteller falsche CO2-Werte angegeben haben sollen. Die Summe von 114 Fällen deutet darauf hin, dass insgesamt nur wenige Daten vorliegen. Trotzdem schlägt das EU-Dokument bereits Lösungen vor. Künftig sollen die gemessenen Verbrauchswerte für alle Fahrzeuge an die Kommission kommuniziert werden, nicht nur die deklarierten. Zudem soll die Fahrzeugkonfiguration bei NEFZ- und WLTP-Testlauf identisch sein, falls die Autos einen zweiten Prüfstandslauf absolvieren. Zudem soll das Co2mpas-Tool durch zusätzliche Parameter genauer werden. Die European Automobile Manufacturers Association (ACEA) unterstützt diese Vorschläge grundsätzlich. Sobald sie ausreichend bewertet wurden, möchte man bei der Umsetzung helfen. In einem Statement heißt es, dass "CO2-Werte nicht absichtlich künstlich erhöht werden sollten, um die CO2-Ziele für die Zeit nach 2020 zu untergraben". Es handele sich aber nicht um ein industrieweites Problem. An den CO2-Grenzen knabbert allerdings jeder Hersteller. 2017 lag der Flottendurchschnitt aller Neuwagen in Deutschland bei 127,9 Gramm CO2 pro Kilometer. Gegenüber 2016 war er um ein halbes Gramm gestiegen. Schuld waren sinkende Diesel-Zulassungen. Der Weg zur 95 ist noch weit.
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