Der VW Derby stand sich noch vor wenigen Jahren beim Gebrauchtwagenhändler die Reifen platt - hässlich, unbeliebt oder schrottreif. Heute sind diese VW Polo mit XXL-Kofferraum rare Liebhaberstücke. "Ich war mit meinem blauen VW 1600 Typ 3 unterwegs, als ich bei einem Schrotthändler in Stuttgart den VW Derby entdeckt habe", rekonstruiert Holger Schradi den Tag im April 2008. In solchen Fällen handelt er immer sofort. "Ha ja, und dann bin ich reingelaufen und hab ihn gekauft", beendet er die Geschichte seines Fundes. Holger ist ein Baujahr 78er-VW-Narr, der neben Autos aus den Siebzigern so ziemlich alles sammelt, was aus dieser Zeit stammt: Kühlschränke, Sofas, Literatur. All diese Dinge laufen dem Junggesellen aus Merklingen bei Weil der Stadt zu. So häßlich, das es schon wieder cool ist "Der VW Derby war doch eines der hässlichsten Autos überhaupt", nennt ein Kumpel das Kind beim Namen. Aber, und darauf kommt es an: "Heute ist der schon wieder richtig cool." Andere berichten von Jugendzeiten, als der VW Derby für Tuningzwecke missbraucht wurde und letztendlich hinter einem Haus verrottete. Dabei ist der auf dem VW Polo 1 beziehungsweise dem Audi 50 basierende VW Derby schon lange kein Auto mehr, das an jeder Ecke steht. Von den ehemals 370.000 verkauften Exemplaren sind so gut wie keine mehr übrig geblieben. Kein Wunder, denn während der größere Konzernbruder Golf von Tunern und mancher Hausfrau penibel gepflegt wurde, fristete der Rücksack-Polo ein Dasein zwischen Ich-will-nen-großen-Kofferraum- und Ich-will-ein-billiges-Auto-Besitzern. Der erste VW Derby ist ein Kind der 70er - auch in Sachen Farben Besonders die erste Generation des VW Derby, die von 1977 bis 1981 verkauft wurde, ist ein seltener Pflegling in gut sortierten Klassiksammlungen. Dabei sorgt er mit peppigen Farbtönen von Manilagrün bis Marsrot und gar 18 Ausstattungsvarianten für reichlich Abwechslung. "Die Frau muss etwa 45 gewesen sein, als sie ihn gekauft hat. Am 27. April 1978", erklärt der VW-Fan. 30 Jahre lang passierte außer guter Pflege, der jährlichen Wartung und einem trockenen Garagenplatz nichts. Dann, die Dame hatte mittlerweile 75 Jahre auf der Lebensuhr, rumpelte sie mit ihrem VW Derby gegen das Garagentor. Der Schaden: eine Schramme an der Chromstoßstange. Die Familie zog die Seniorin aus dem Verkehr und den VW Derby auf den Schrottplatz. Dass der Volkswagen nicht als Briefkasten recycelt an der Hauswand einer Bankfiliale hängt, ist allein dem Zufall zu verdanken. "Der Lack in Baligrün ist original. Er hat ein paar Kratzer, aber das ist okay", freut sich Holger Schradi und blickt verliebt auf sein Auto. Auf dem Polster sitzt es sich noch wie damals im Showroom beim VW-Händler. Kein Teil der GLS-Innenausstattung der Variante "Tabak" wirkt verwohnt - beinahe jungfräulich. Platziert man sich hinter dem Kunststoff-Lenkrad auf dem straffen Gestühl, dreht den originalen Volkswagen-Zündschlüssel um und lauscht dem braven 1-3-4-2-Takt, wirkt alles ganz normal. Nicht serienmäßig: 75 PS-Motor im 700 Kilo-Derby Sofort würde ich mit dem VW Derby ein Reise antreten - ich habe nicht das Gefühl, in einem vernachlässigten Youngtimer zu sitzen, sondern in einem guten Gebrauchten. Der Motor läuft in Ruhe bei 800 Touren pro Minute. Die Gänge des nachgerüsteten 4+E-Getriebes schalten sich butterweich und dennoch direkt. Leger erreicht der VW Derby die 130 km/h-Grenze und schlendert dann gemächlich gegen Tempo 150 km/h auf der Tachoanzeige. Engagierter zeigt sich der VW Derby auf der kurvenreichen Landstraße, wenn die 75 Pferdestärken aus einem 1300er-Polo-GK-Aggregat von der Leine gelassen werden. Serienmäßig hatte der 700 Kilogramm leichte VW Derby den etwas schwächeren 1,3-Liter mit Viergangschaltung unter der Haube. Mit 60 PS war dieses Modell der leistungsstärkste Typ auf der Bestellliste beim Volkswagen-Händler. Das Fahrwerk des VW Derby optimierte Holger zudem mit H&R-Federn im Verbund mit gelben Koni-Stoßdämpfern. Von ausgeleiertem Schaukelpferd-Charakter kann hier keine Rede sein. Dabei sorgt die Gillet-Auspuffanlage für ein angenehmes Blubbern im Teillastbereich. Die Musik kommt bei diesem Derby aus dem Koffer "Alle Änderungen sollten natürlich zeitgenössisch sein und nicht zu extrem", erklärt Holger auf dem Beifahrersitz, während er mit wachsamem Blick meinen Fahrversuchen folgt. Auf der Rücksitzbank des VW Derby entdecke ich einen Lederkoffer. "Was ist da drin"?, frage ich neugierig, während meine Finger schon an den Schnappverschlüssen zupfen. "Ha, das ist meine Musik", antwortet der Beifahrer. Tatsächlich, in dem Gepäckstück sind zwei Lautsprecherboxen verbaut, die über ein Radio in der Ablage des Instrumentenbretts bedient werden. Die Must-Have-Kugellautsprecher werden derweil auf der braunen Heckablage geschont und nur zu Deko-Zwecken präsentiert. Man muss sich schon ein bisschen mit dem Thema VW Derby beschäftigen, um den kleinen, aber feinen Modifizierungen an diesem beinahe originalen Auto auf die Schliche zu kommen. Damit wir nicht allzu lange forschen müssen, deckt Holger auf: "Der Schalttafeleinsatz ist vom Audi 80. Der hat einen Drehzahlmesser, früher gab es nur eine Uhr." Ebenfalls nur für Kenner zu entdecken sind die Zubehör-Ablageschale von Kamei vor der Schaltkulisse des VW Derby oder die Alu-Felgen der Dimension 5,5 x 13 Zoll vom Audi GT Coupé, die der Sammler noch in einem Regal "rumliegen" hatte. Von herumliegendem Autozubehör aus den Siebzigern und Achtzigern kann Herr Korn, der uns die Fotolocation auf dem Schrottplatz Gross in Köngen bei Wendlingen zur Verfügung gestellt hat, nur träumen. Blechteile für diesen Volkswagen Derby gibt es bei ihm schon lange nicht mehr, bestätigt der Auto-Recycler. Ins Geschäft kommen wir also nicht, aber ins Schwelgen. Damals wurden sie achtlos verschrottet, heute kümmern sich nur wenige drum. Holger würde sich von seinem "Grünen" niemals trennen. Einem der wenigen Überlebenden.
Quelle: Motor Klassik |
verfasst am 07.03.2012
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