Mysteriöse Schüsse auf deutschen Autobahnen hielten Ermittler fünf Jahre lang in Atem, bis das BKA dem mutmaßlichen Rachefeldzug eines Fernfahrers auf die Spur kam. Jetzt beginnt der Prozess.
Würzburg - Es ist schon dunkel, als plötzlich das Projektil durch die Fensterscheibe bricht. Glas splittert, ein Bruchteil der Kugel trifft die 40-jährige Fahrerin am Hals. Die Geschäftsfrau wird lebensgefährlich verletzt und prallt mit ihrem Wagen gegen eine Leitplanke auf der Autobahn 3 bei Würzburg. Dieser Vorfall ereignete sich im November 2009 und war der gravierendste in einer Serie von Schüssen auf deutschen Autobahnen. Er versetzte Lastwagenfahrer in Angst und hielt Ermittler über fünf Jahre in Atem. Erst mit einer beispiellosen Datensammlung kam das Bundeskriminalamt (BKA) dem mutmaßlichen Rachefeldzug eines Fernfahrers auf die Spur. Mehr als 700 Mal hat der Angeklagte Fahrzeuge ins Visier genommenVon Montag an steht der geständige 58-Jährige in Würzburg vor Gericht. Mehr als 700 Mal soll der Mann aus Kall in der Eifel vom Steuer aus andere Fahrzeuge ins Visier genommen haben, 169 Fälle sind angeklagt. Die große Frage lautet: Sind die Attacken auf die Geschäftsfrau und vier weitere Schüsse als Mordversuche zu werten? So sieht es die Staatsanwaltschaft. Folgt man den Schilderungen von Oberstaatsanwalt Dietrich Geuder nach der Festnahme im vergangenen Jahr, so wähnte sich der "frustrierte Einzelgänger" auf der Autobahn im Krieg. Aus Ärger über rücksichtslose Kollegen soll er zur Waffe gegriffen haben, Quelle: picture alliance / dpa "eine Art Selbstjustiz", wie Geuder es damals nannte. Der Mann habe erzählt, er sei vor Jahren einmal von einem Autotransporter abgedrängt worden, es habe fast einen Unfall gegeben. Mit seinen Pistolen mit selbstgebauten Schalldämpfern soll der Mann vor allem die Ladung von Autotransportern ins Visier genommen haben. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er die Geschäftsfrau wohl versehentlich beschoss. Doch er habe heimtückisch gehandelt und einen Fehlschuss - und damit den möglichen Tod anderer - "zumindest billigend in Kauf genommen", hieß es bei Anklageerhebung. Verteidiger sehen keinen TötungsvorsatzDie Verteidiger halten diese Argumentation für falsch. "Wir sehen den Tötungsvorsatz auch nicht in Form des Eventualvorsatzes, überhaupt nicht", betont Anwalt Guido Reitz. Sein Mandant habe Schüsse gestanden, auch wenn er sich natürlich nicht an jeden einzelnen Vorfall erinnern könne. "Was er von vorneherein gesagt hat, noch bevor er mit einem Anwalt gesprochen hatte: Er hatte nie die Absicht, jemanden zu verletzen. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen." Zur Motivation des Angeklagten will er sich vorab nicht äußern. Außer der 40-jährigen Frau wurden bei einer weiteren Attacke zwei Männer von splitterndem Glas verletzt. Als Mordversuch sind auch drei Fälle angeklagt, in denen niemand zu Schaden kam, das Risiko aus Sicht der Ermittler aber besonders hoch war - zum Beispiel wegen dichten Verkehrs. Außerdem werden dem 58-Jährigen gefährliche Körperverletzung, unerlaubter Waffenbesitz, Sachbeschädigung und Eingriffe in den Straßenverkehr zur Last gelegt. Wir müssen diese Tatserie stoppen, bevor Schlimmeres passiertDie Suche nach dem Geisterschützen war für die Fahnder auch deshalb eine harte Nuss, weil die Einschusslöcher oft erst am Zielort bemerkt wurden. So fiel es schwer, Tatort und -zeit zu ermitteln. Als der Unbekannte von einem Kleinkaliber auf eine Neun-Millimeter-Waffe gewechselt hatte, übernahm das BKA die Federführung und Präsident Jörg Ziercke richtete einen dramatischen Appell an die Quelle: picture alliance / dpa Öffentlichkeit: "Wir müssen diese Tatserie stoppen, bevor Schlimmeres passiert!" Die Sonderkommission "Transporter" ließ an sieben Autobahnabschnitten automatisch Millionen Nummernschilder erfassen. Wenn Schüsse fielen, wurden die Kennzeichen aus der fraglichen Zeit ausgewertet - so zog sich die Schlinge um den mutmaßlichen Autobahnschützen schließlich zu. Das Vorgehen zog allerdings die Kritik von Datenschützern auf sich. Nun kann die Öffentlichkeit sich ein eigenes Bild von dem Mann machen, der auch mehr als 180 Mal Nagelplättchen auf Straßen ausgelegt haben soll. Inwieweit er vor Gericht redet, ist noch unklar. "Grundsätzlich hat er sich geäußert, und diese Äußerungen werden zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden", sagt Verteidiger Reitz. Und macht klar: "Sobald es um den Mordversuch geht, werden wir uns zurückhaltend zeigen." Für das umfangreiche Verfahren sind neun Verhandlungstage bis Mitte September angesetzt. Weitere MOTOR-TALK-News findet Ihr in unserer übersichtlichen 7-Tage-Ansicht |