Saab 900 I 2.0 Turbo Test
13.04.2016 19:03 | Bericht erstellt von aero84
Testfahrzeug | Saab 900 I 2.0 Turbo |
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Leistung | 160 PS / 118 Kw |
Hubraum | 1985 |
HSN | 9116 |
TSN | 315 |
Aufbauart | Limousine |
Kilometerstand | 619000 km |
Getriebeart | Handschaltung |
Erstzulassung | 7/1985 |
Nutzungssituation | Privatwagen |
Testdauer | mehr als 5 Jahre |
Einleitung
Das ist mein Alltagsfahrzeug, mit dem ich den Großteil meiner Kilometer abreiße. Gekauft im März 2008 als kurzfristige Lösung des Unfugplakettenproblems. Damals hatte der Wagen 301.000km auf der Uhr. In den letzten 8 Jahren habe ich nun über 300.000 weitere km draufgefahren und einen fünfstelligen Betrag in der Werkstatt gelassen. Der aktuelle Kilometerstand beträgt grob 619.000km. |
Karosserie
Die Karosserie ist recht schmal geschnitten, man sitzt recht eng nebeneinander. Vorne hat man auch als gut gebauter, wohlgenährter Mann ausreichend Platz, im Fond wird es für 1,90-Meter-Männer dann doch etwas beengt. Bei aller Sicherheit sind die Autos aber auch recht "weich" - auf schlechten Straßen spürt man die Karosserie arbeiten. Das gilt jedenfalls, wenn mehr als 150.000km auf dem Tacho stehen - also bei eigentlich allen Autos, die noch auf der Straße sind. Rost ist mittlerweile ein Thema. Eigentlich war die Rostvorsorge (bis auf die in Malmö gebauten Autos) recht gut, 23 bis 37 Jahre später muß man aber davon ausgehen, daß praktisch alle Autos mehr oder weniger stark gammeln. Die gute Nachricht: das dicke Blech freut den, der es schweißen muß; bis auf grotesk aufwendig geformte Antriebswellentunnel sind Blecharbeiten relativ einfach und damit bezahlbar. |
Platzangebot vorn: | eng | geräumig | |
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Platzangebot hinten: | eng | geräumig | |
Kofferraum: | klein | groß | |
Übersichtlichkeit: | schlecht | gut | |
Qualitätseindruck: | minderwertig | hochwertig |
- + Für die damalige Zeit außerordentliche passive Sicherheit
- + Gute Übersichtlichkeit
- + selbstreparierende Stoßstangen (bis 8km/h)
- - fühlt sich auf schlechten Straßen weich an
- - nach 22 bis 37 Jahren gammeln eigentlich alle
Antrieb
Turbo läuft, turbo säuft und Kraft kommt von Kraftstoff. Das bitte ich bei der Beurteilung der angegeben Charakteristika im Hinterkopf zu behalten. In der Stadt muß man mit 12 Litern rechnen, bei tempomatierter Autobahnlangstrecke mit 120-130km/h reichen je nach Beladung und Windrichtung 8 bis 9 Liter. Bei Schleichfahrt überland sind unter 7 Liter möglich, bei wüster Heizerei kann der Verbrauch auch schonmal bis zur 20-Liter-Marke eskalieren. Dann ist man aber entweder nachts auf einer menschenleeren Autobahn ziemlich schnell oder aber ziemlich weit außerhalb der StVO unterwegs. Die Motoren stammen aus dem Scania-Motorenwerk: die halten! Gewissenhafte Wartung vorausgesetzt. Regelmäßige Ölwechsel sind Pflicht. Kühlwasserwechsel nicht vergessen - Kopfdichtung, Block und Kopf danken es. (Graugußblock und Leichtmetallkopf, dazu ein paar Kupferteile im Wasserkreislauf - wenn nicht alle zwei Jahre das Kühlmittel getauscht wird korrodiert das schneller, als man "Galvanik" sagen kann.) Außerdem muß die Peripherie in Ordnung sein. Schlecht eingestellte Zündungen, Falschluft oder ähnliches sind bei einem Turbobenziner recht schnell tödlich, gleiches gilt, wenn ohne Sinn und Verstand in der Ladedrucksteuerung herumgepfuscht wird. In meinem Fall war ein defektes Steuergerät der LH-Jetronik, das unter Vollast nicht mehr anreicherte Schuld an einem verbrannten Kolbenring bei km-Stand 410.000. Der Rest des Motors sah aus wie neu - kein sicht- und meßbarer Verschleiß an Zylindern und Nockenwellen. Eine Schwachstelle ist das Getriebe. Zum einen hat bei den meisten schon zwanzig Jahre lang niemand mehr nach dem Ölstand geschaut, und trocken hält kein Getriebe lange. Zum anderen ist es für das Drehmoment des Turbomotors etwas sparsam dimensioniert. Durchdrehende Räder sind tödlich - die Drehmomentspitzen im Moment des wieder-Grip-kriegens überleben Differential und Gangräder oft genug nicht. Zum anderen schalten sie sich recht hakelig. Flüssige Gangwechsel kann man vergessen. Bitte auch nicht versuchen, da irgendwas zu erzwingen - wer die Gänge reinprügelt kriegt jedes Getriebe klein. |
Motorleistung: | schwach | stark | |
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Durchzug: | unelastisch | elastisch | |
Drehfreude: | zäh | agil | |
Getriebe/Schaltverhalten: | schlecht | gut | |
Verbrauch: | durstig | effizient | |
Reichweite: | gering | hoch |
- + sparsam gefahren sehr effizient
- + der 16V-Turbo (B202L) ist durchzugsstark und drehfreudig
- + Lebensdauer des Motors bei gescheiter Wartung nur durch die Peripherie bestimmt.
- + es ist einfacher, Autos mit 300k oder 400k zu finden als welche, die nur200k gelaufen sind.
- - wenn man die Leistung abruft ziemlich durstig
- - Getriebe hakelig
Fahrdynamik
Daß der Motor was kann wurde ja schon im Kapitel Antrieb erwähnt. Der 900 kann aber nicht nur Längs-, sondern auch Querbeschleunigung. Gewarnt werden muß vor der Bremse in den Jahrgängen vor dem Modelljahr 1988. Die ist für die Leistung des Autos absolut unterdimensioniert. Sie reicht zwar aus, um die Räder immer zum Blockieren zu bringen, neigt aber zu starkem fading. Es steht stark zu bezweifeln, ob man den Wagen aus Geschwindigkeiten jenseits der 200km/h überhaupt bis zum Stillstand abbremsen kann, jedenfalls wenn man aus Rücksicht auf seine Reifen die Reifen nicht sofort zum Blockieren bringen will... |
Wendekreis: | groß | klein | |
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Beschleunigung: | langsam | schnell | |
Lenkung: | schwammig | direkt | |
Bremsen: | schwach | standfest | |
Fahrverhalten: | unausgeglichen | ausgeglichen | |
Kurvenverhalten: | unsicher | sicher | |
Wendigkeit: | träge | agil |
- + sehr agiles Einlenken
- + kaum Antriebseinflüsse in der Lenkung
- + perfekte Gewichtsverteilung
- + hohe Kurvengeschwindigkeiten
- + gutes feedback, dadurch im Grenzbereich sehr einfach beherrschbar
- + exzellente Wintertauglichkeit
- - Bremsen vor Modelljahr '88 sehr fadinganfällig
Komfort
Die Sitze sind das große Plus. Sie bieten nach heutigen Maßstäben mäßig, aber noch ausreichenden Seitenhalt. Vor allem aber sind sie bequem und wirklich langstreckentauglich. Ich habe mehrmals über 1000km an einem Stück abgerissen und bin frischt und gut erholt ausgestiegen. Saab hatte mal den Claim "Auf langen Strecken zuhause." Da ist etwas dran. Das Leder der Ledersitze stammt entweder von Elmo oder Bridge of Weir und ist bei etwas Pflege sehr langlebig; genauso wie die geradezu unzerstörbaren Veloursstoffe der Velourssitze (und Türverkleidungen). Überhaupt sind die Materialien schön: Da Armaturenbrett ist natürlich auch nur aus Plastik, aber es sieht gut aus und fasst sich gut an, die Oberkanten der Tüverkleidungen sind mit gepolstertem Kunstleder bezogen... man merkt, daß dieser Innenraum noch komplett GM-frei ist. Leider sind die Autos relativ laut. Daß der Motor laut ist stört uns Autofans ja nicht, vor Allem wenn der Wagen so gut und kernig klingt wie ein 900 turbo. (Dafür ist übrigens der asymmetrische Krümmer verantwortlich - und die Tatsache, daß die Abgasanlage der Turbos im Prinzip nur aus einem geraden, dicken Rohr mit einem einzigen Schalldämpfer besteht.) Weniger schön sind die Windgeräusche und geradezu nervig ist das Dröhnen, das bei den frühen Modellen bei Geschwindigkeiten ab 120km/h die Kabine erfüllt. In späteren Bauahren wurden die Gummi-Motorlager durch hydraulische ersetzt. Das ist auch für frühere Jahrgänge eine sehr empfehlenswerte Nachrüstung, die den Wagen auf Autobahnen deutlich angenehmer macht. Die Heizung reicht aus, um den Innenraum auch bei minus 35°C schnell auf +15° zu erwärmen. Oder um das Cabrio bei 0° offen zu fahren. Die Autos kommen schließlich aus Schweden. Sie ist dafür, obwohl eigentlich stufenlos verstellbar, nur schwer und nur in den folgenden Stellungen zu dosieren: kalt - heiß - ganz heiß. An Extras war für den Erstkäufer fast alles wählbar (und teilweise je nach Motorisierung und Baujahr serienmäßig), was man zum zivilisierten Autofahren braucht: elektrisch verstellbare Außenspiegel, elektrische Fensterheber, Tempomat... hat mein Auto dankenswerterweise fast alles. Nur die beheizten Außenspiegel fehlen. Etwas unangenehm ist die Eigenart der sportlich abgestimmten Federung, kleine Unebenheiten nahezu ungefiltert an die Insassen durchzugeben. Daher ist der Auswahl der Reifen besondere Beachtung zu schenken - Reifen mit steifen Flanken ruinieren jeden Federungskomfort. |
Federung (sportlich): | schlecht abgestimmt | gut abgestimmt | |
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Sitze vorn: | unbequem | bequem | |
Sitze hinten: | unbequem | bequem | |
Innengeräusche: | laut | leise | |
Bedienung: | kompliziert | intuitiv | |
Heizung/Klimatisierung: | schwach | wirkungsvoll |
- + Die zweitbesten Autositze der Welt. (Die besten finden sich im Saab 9000)
- + Sitzheizung serienmäßig
- + im Winter als Sauna nutzbar
- + umfangreiche Ausstattung
- + hochwertige Materialien im Innenraum
- - kleine Fahrbahnunebenheiten werden von der Federung ungehindert durchgelassen
- - lautes Innenraumgeräusch
Emotion
Einen 900 turbo fährt man nicht aus rationalen Gründen. Das heißt, nicht nur. Man schätzt seine komfortablen Sitze und die Langstreckentauglichkeit. Man schätzt den großen Kofferraum, der bei umgelegter Rückbank selbst bei der Stufenhecklimousine 1,8m Ladefläche und 1500 Liter Stauraum bietet (und als Fließheck locker Waschmaschinen oder Sofas schluckt und Kombis vollkommen entbehrlich macht). Man ist angenehm beruhigt von der Insassensicherheit. Man schätzt seine Zuverlässigkeit und Dauerhaltbarkeit. Und natürlich ist das eigenständige Design ein Statement an die Umgebung. Aber sobald man am Steuer sitzt ist einem das alles egal. Dann will man einfach nur fahren. |
Design: | langweilig | attraktiv | |
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Temperament (sportlich): | ausbaufähig | realisiert | |
Image: | negativ | positiv |
- + gelungenes, eigenständiges Design
- + Fahrspaß
- + großartiger Klang für einen Vierzylinder
- - Dauergrinsen aus dem Gesicht des Fahrers nur operativ entfernbar
Unterhaltskosten
KFZ-Steuer pro Jahr | 100-200 Euro |
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Verbrauch auf 100 km | 8,5-9,0 Liter |
Gebrauchtwagengarantie | keine vorhanden |
Versicherungsregion (PLZ) | 8 |
Haftpflicht | bis 200 Euro (50%) |
Teilkasko | 100-200 Euro |
Außerplanmäßige Reparaturkosten | Sonstiges - Kabelbäume lösen sich auf. Motorschaden bei 410.000 aufgrund defekten Steuergeräts, Servolenkung bei 490.000km, Lichtmaschine 510.000, Getriebe 534.000 (0 €) |
Gesamtfazit zum Test
- + Stil
- + Fahrspaß
- + Haltbarkeit
- + Emotion
- + Alltagstauglichkeit
- - unberechenbare Kosten
- - Was sollen denn die Nachbarn sagen?
- - Gute Saabwerkstätten sind rar
- - Ersatzteilversorgung wird langsam spannend
Der 900 ist der perfekte Alltagsklassiker: er ist grundsätzlich zuverlässig und haltbar, ist ausreichend sicher, bequem, schnell und sparsam.
Das Design ist eigenständig und gelungen. Langstreckentaugliche Sitze. Die Ergonomie großartig, das Auto sitzt "wie ein Maßanzug". Motor und Fahrwerk verwandeln das so harmlos wirkende kleine Auto bei Bedarf in einen Landstraßenschreck, mit dem man absurd viel Spaß haben kann.
Außerdem hat man in diesem Auto grundsätzlich gute Laune.
Daß man als Halter ein gewisses Maß an Improvisationstalent, Leidensbereitschaft und ab und an tiefe Taschen braucht - geschenkt. Wer einmal diesem Auto verfallen ist kommt davon auch nicht mehr los.
Nichts für Airbagfetischisten, SUV-Mamis und Leute, die silberne Golf TDI leasen. Das ist ein altes Auto, da muß man manchmal Kompromisse eingehen. Und oft genug läßt man mehr Geld in der Werkstatt, als einem lieb ist. Die Ersatzteilversorgung wird langsam spannend (aber wir arbeiten dran, daß sich das wieder verbessert). Kurz: nichts für risikoscheue Menschen. Und nichts für Menschen, die nicht bereit sind, für Schönheit ab und an zu leiden.
Das Design polarisiert. Man fällt definitiv auf. Also auch nichts für Menschen mit schwachem Selbstbewußtsein.