Britische Industrie kritisiert Brexit-Unsicherheit

"Bisher haben wir keine Ahnung, wie das endet"

MOTOR-TALK

verfasst am Thu Jul 05 12:59:59 CEST 2018

In 9 Monaten soll der britische EU-Austritt vollzogen sein. Nur, was kommt dann? Die britische Wirtschaft kritisiert den harten Brexit-Kurs von Premierministerin May.

Mini-Präsentation in Oxford: BMW hat längst begonnen, für seine britische Marke Kapazitäten in den EU-Staaten aufzubauen - wäre also nicht unvorbereitet, wenn der Export von Fahrzeugen aus Großbritannien unretabel würde
Quelle: dpa/Picture Alliance

London - Airbus, Siemens, BMW, Jaguar Land Rover: die britische Industrie wagt sich in Sachen Brexit inzwischen aus der Deckung. Sie fordert eine Abkehr vom harten Brexit-Kurs der Regierung. Vor allem fordert sie endlich Klarheit, wie das künftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien aussehen soll.

Die Unsicherheit über die zukünftigen Rahmenbedingungen des Handels mit der EU habe in der Autoindustrie dazu geführt, dass Investitionen im Vergleich zum Vorjahr beinahe um die Hälfte gesunken seien, teilte der Verband der britischen Autohersteller (SMMT) jüngst mit. Die derzeitige Position der Regierung mit widersprüchlichen Signalen und roten Linien gehe "direkt gegen die Interessen der Automobilbranche in Großbritannien, die vom Binnenmarkt und der Mitgliedschaft in der Zollunion profitiert hat", sagte SMMT-Chef Mike Hawes.

Die Zollunion garantiert freien Warenverkehr über Binnengrenzen hinweg. Voraussetzung dafür sind gemeinsame Außenzölle. Der Binnenmarkt sorgt dafür, dass keine rechtlichen Hürden die Bewegungsfreiheit für Menschen, Waren, Geld und Dienstleistungen innerhalb der EU einschränken. Bislang will London aus beiden Regelwerken austreten, gleichzeitig aber den Handel so "durchlässig wie möglich" gestalten. Wie das gehen soll, ist noch ein Rätsel.

Jaguar will mehr Sicherheit

"Über die beiden vergangenen Jahre hinweg war die Wirtschaft geduldig", sagte der Chef des britischen Handelskammerverbands BCC, Adam Marshall. Jetzt sei jedoch das Fass am Überlaufen. Deutlich wird das vor allem daran, dass sich inzwischen viele Unternehmen kritisch zu Wort melden, die bisher geschwiegen haben.

"Wir brauchen dringend mehr Sicherheit, um weiter stark in Großbritannien zu investieren und unsere Lieferanten, Kunden und 40.000 Angestellte in Großbritannien zu schützen", erklärte Jaguar Land Rover am Donnerstag. Wenn der freie Handel mit der EU und der unbeschränkte Zugang zum Binnenmarkt verloren gingen, sei die Zukunft ungewiss.

Bis Ende des Sommer müsse Klarheit herrschen, sagte der BMW-Manager Ian Robertson, Ende Juni dem Sender BBC. Der Konzern besitzt die Marken Mini und Rolls-Royce und hat rund 8.000 Beschäftigte im Vereinigten Königreich. "Wenn wir in den nächsten Monaten keine Klarheit bekommen, müssen wir damit beginnen, Alternativpläne zu entwickeln." Sonst würde man Geld in Konstruktionen investieren, "die wir vielleicht nicht benötigen, in Lagerhallen, die vielleicht künftig nicht brauchbar sind".

Ghosn: "Keine Ahnung, wie das endet"

Ebenfalls stark sind in Großbritannien die japanischen Autobauer Honda, Nissan und Toyota. Die hatten bereits im Februar gemeinsam mit dem japanischen Botschafter Koji Tsuruoka bei Theresa May vorgesprochen. Wenn es sich nicht mehr lohne, die Geschäfte in Großbritannien fortzuführen, könne dort kein Privatunternehmen seine Arbeit aufrechterhalten, sagte Tsuruoka nach dem Treffen.

Toyota hatte sich zwar entschieden, die Produktion des Kompaktmodells Auris in Großbritannien zu belassen. Der Camry als Ersatz des Avensis wird jedoch künftig aus Japan kommen. Nissan-Chef Carlos Ghosn äußerte sich gegenüber der britischen "BBC" ebenfalls genervt. Der Brexit müsse ja nicht schlecht sein für die Wirtschaft. Vielleicht werde er besser als alle erwarteteten. Aber: "Bisher haben wir keine Ahnung, wie das endet. Und wir wollen keine Entscheidungen treffen, die wir in der Zukunft bereuen könnten".

Nissan hat laut der Zeitung "The Chronicle" zwei neue Modelle für die größte britische Autofabrik in Sunderland eingeplant, darüber hinausreichende Entscheidungen aber aufgeschoben. "Wenn die Wettbewerbsfähigkeit nicht gegeben ist, wird es einen Rückzug geben. Der mag eine Weile dauern, aber es wird ihn geben", ergänzte Ghosn.

Airbus: Zukunft gefährdet

Auch nach Angaben von Siemens wird ein EU-Ausstieg ohne Abkommen den Betrieben und Arbeitsplätzen im Vereinigten Königreich schaden. Siemens hat etwa 15.000 Beschäftigte im Land. Die Produkte reichen von Gasturbinen bis zu medizinischen Geräten. Airbus hatte im Fall eines harten Brexits ohne Abkommen mit dem Teil-Rückzug aus Großbritannien gedroht. "Einfach ausgedrückt gefährdet ein Szenario ohne Deal direkt die Zukunft von Airbus im Vereinigten Königreich", erklärte der Leiter der Verkehrsflugzeug-Produktion, Tom Williams. Falls das Land den Binnenmarkt und die Zollunion unvermittelt verlasse, würde dies zu einer "«schweren Störung und Unterbrechung" der Produktion führen.

Auch in der Finanzbranche wird die Ungeduld spürbarer. Die Bank of America kündigte kürzlich an, sie werde drei führende Mitarbeiter nach Paris versetzen, 125 sollen nach Dublin gehen. Barclays will Medienberichten 50 Jobs nach Frankfurt verlegen. Insgesamt wird befürchtet, dass bis zu 75.000 Arbeitsplätze bei Banken und Versicherungen in Großbritannien verloren gehen könnten.

Boris Johnson: Alles Mumpitz?

Ob die Brexit-Hardliner im Kabinett den Bossen zuhören? Außenminister Boris Johnson soll darauf angesprochen mit einem Kraftausdruck reagiert haben, der mit "Scheiß auf die Wirtschaft" übersetzt werden kann. Er nennt die Sorgen der Konzerne gern "Mumbo Jumbo", was so viel wie "Mumpitz" bedeutet.

Sein Kabinettskollege, der Schatzkanzler Philip Hammond, dürfte das komplett anders sehen. Am Freitag könnte sich zeigen, wer von beiden am längeren Hebel sitzt. Dann will das Kabinett sich auf einen Plan für die Nach-Brexit-Zeit einigen. Klarer Bruch mit Brüssel - oder eine möglichst enge Partnerschaft? Spekulationen, May könnte nun doch eine enge Anbindung an die EU suchen, haben das Brexit-Lager misstrauisch gemacht. Denn sicher ist nur eines: Die Uhr tickt, und am 29. März 2019 wird Großbritannien aus der EU ausscheiden, mit Abkommen oder ohne.

Schlittert das Land im kommenden Jahr ohne Abkommen aus der EU, wäre auch die bereits verabredete Übergangsphase von knapp zwei Jahren hinfällig. Am Brexit-Tag würde Chaos ausbrechen. Zölle müssten eingeführt werden, Warenkontrollen an den Grenzen wären nötig. Ein Szenario, für das weder die britischen Zollbehörden noch ihre Kollegen auf dem Kontinent gerüstet wären.

Quelle: dpa; bmt