Fiat-Chrysler-Chef Marchionne in Zürich gestorben

Sergio Marchionne ist tot

Björn Tolksdorf

verfasst am Wed Jul 25 11:52:38 CEST 2018

Der ehemalige Fiat-Chef Sergio Marchionne ist in Zürich an den Folgen einer Operation verstorben. Er wurde 66 Jahre alt.

Sergio Marchionne hatte eine unwahrscheinliche Karriere - und hat zwei große Autohersteller vor dem fast sicheren Aus gerettet
Quelle: dpa / Picture Alliance

Zürich - Der am Wochenende aus Gesundheitsgründen abgelöste Fiat-Chef Sergio Marchionne ist im Alter von 66 Jahren verstorben. Fiat bestätigte entsprechende Medienberichte am Mittwoch. Fiat- und Ferrari-Präsident John Elkann sagte laut der Mitteilung: "Leider ist das, was wir befürchtet haben, eingetreten. Sergio Marchionne, ein Mann und Freund, ist fort."

Nach unerwarteten Komplikationen bei einer Operation in Zürich hatte sich der Zustand des Managers so stark verschlechtert, dass er seine Arbeit als Fiat-Chef sowie als Präsident und Vorstandschef von Ferrari nicht wieder aufnehmen konnte.

Laut italienischen Medien erlitt Marchionne eine Embolie, während er sich im Universitätskrankenhaus Zürich einer Krebs-Operation an der Schulter unterzog. Dabei sei er ins Koma gefallen, sein Gehirn habe irreversible Schäden davongetragen. Fiat wollte diesen Bericht zunächst nicht bestätigen.

An der Spitze von Fiat steht nun der Chef der US-Geländewagen-Tochter Jeep, Mike Manley. Neuer Ferrari-Chef wurde Louis Camilleri, der zuvor unter anderem leitende Positionen beim Tabakmulti Philip Morris innehatte.

Einwandererkind und Workaholic

Der Tod von Sergio Marchionne kommt für die Öffentlichkeit plötzlich und unerwartet. Dass er nicht mehr da sein soll, ist kaum vorstellbar. Marchionne war ein Gigant der Automobilindustrie, auch gemessen an den Spuren, die andere Spitzenmanager hinterlassen.

Dass er einmal einer der wichtigsten Auto-Bosse werden würde, war dabei nicht mal absehbar. Einen Schweizer Prüfkonzern hatte der Italo-Kanadier als Geschäftsführer vor dem fast sicheren Aus gerettet. Das war der italienischen Agnelli-Familie aufgefallen. Deren traditionsreicher Autokonzern Fiat stand ebenfalls ökonomisch an der Klippe, einen Fuß bereits über dem Abgrund. „Wenn die Agnellis Dich fragen, sagst Du nicht nein“, hatte Marchionne einmal gesagt.

Geboren wurde Sergio Marchionne am 17. Juni 1952 in Chieti, Italien. Eine arme Region waren die Abruzzen, die historisch von Süditalien aus regiert wurden und die in der Nachkriegszeit wenig Perspektive boten. Marchionnes Familie wanderte nach Kanada aus und ließ sich in Toronto nieder, da war Sergio 14 Jahre alt.

Das Einwandererkind wollte es zu etwas bringen. Sergio Marchionne studierte in Toronto erst Philosophie und Betriebswirtschaft, später noch Jura. Auf Erfolg deutete in der Karriere des Mannes, der die italienische wie die kanadische Staatsbürgerschaft besaß, vieles hin. Auf die Autoindustrie dagegen zunächst wenig.

Karriere als Wirtschaftsprüfer

1983 stieg Marchionne als Wirtschaftsprüfer bei der Consulting-Agentur Deloitte ein. Ein Global Player mit prominenten Kunden, heute gehören Apple, Microsoft und Boeing dazu. Danach zog es Marchionne weiter zum kanadischen Verpackungsunternehmen Lawson Mardon, wo er 1992 kaufmännischer Geschäftsführer wurde.

Diese Firma übernahm 1994 der Schweizer Chemiekonzern Alusuisse Lonza, was Marchionne beruflich nach Europa zurückbrachte. Von dort ging es zum Schweizer Prüfkonzern SGS – und ins Notizbuch der Agnellis. Bei der Fiat S.p.A. wurde Marchionne 2003 in den Aufsichtsrat berufen und 2004 zum Geschäftsführer ernannt.

Marchionne führte einen neuen Stil ein: Pullover statt Krawatte, direkte Nähe zu den Angestellten statt Elfenbeinturm. Im Eiltempo gelang die Sanierung des maroden Autoherstellers. Marchionne verhandelte hart mit jedem, der Fiat Geld schuldete. Überredete GM zur Zahlung von zwei Milliarden. Schloss Fabriken, dehnte Produktzyklen, strukturierte die Verwaltung und die Schulden neu – und investierte in neue Modelle wie den bis heute höchst erfolgreichen Fiat 500.

Bereits 2005 schrieb Fiat wieder schwarze Zahlen. "Der Tag, an dem ich eine Krawatte tragen werde, wird ein großer Tag sein", sagte Marchionne einmal. Im Juni 2018 war es so weit, als er verkündete, Fiat Chrysler von den Schulden befreit zu haben.

Einstieg bei Chrysler

Kurz nach Fiats ersten Erfolgen schlug die Wirtschaftskrise in der Autobranche hart zu und brachte einige Konzerne ins Wanken. Vor allem die Amerikaner. Im Falle von Chrysler war es mehr als nur Wanken: 2007 hatte Daimler gerade noch den Absprung geschafft und den Konzern mit Traditionsmarken wie Chrysler, Dodge und Jeep an die Investmentbanker von Cerberus abgestoßen.

Finanzpolitisch kompetent, industriell inkompetent – so brachte Marchionne später seinen Eindruck von Cerberus auf den Punkt. Daimler kam nicht besser weg: „Auf dem Weg hinaus haben sie alles mitgenommen“. Fiat habe leere Regale vorgefunden, als die Italiener 2009 zunächst 20 Prozent an Chrysler übernahmen. Im Juni 2009 wurde Marchionne CEO der Chrysler LLC und bereitete die Fusion der beiden Unternehmen vor. Über fünf Jahre zog sich der Prozess, bis 2014 die heutige FCA – Fiat Chrysler Automobiles – entstand.

Am Wagnis Chrysler waren die Deutschen gescheitert, die Italiener schafften es: Marchionne entschuldete den italienisch-amerikanischen Konzern und schuf für Fiat und Chrysler dringend benötigte Skaleneffekte. Der siebtgrößte Autobauer der Welt wankt nicht mehr, er schaukelt allenfalls noch etwas. Für den Bernstein-Analysten Max Warburton angesichts der Vorzeichen beinahe mythisch: „Sergio Marchionnes Zeit als CEO bei Fiat bietet schon jetzt Stoff für eine Legende“.

„unfit for human consumption“

Ein Gute-Laune-Onkel war Marchionne dabei nicht unbedingt, auch wenn viele seiner Aussagen bei Unbeteiligten für gute Laune sorgten. Mitarbeiter erinnern sich an hohe Anforderungen, Gewerkschafter an knallharte Bandagen. Der Krankenstand bei Fiat hänge davon ab, was für ein Fußballspiel gerade anstehe, ließ Marchionne in Italien verlauten. Den Jeep Commander bezeichnete er als "unfit for human consumption". (untauglich für den Konsum durch Menschen). VW-Chef Martin Winterkorn warf er ein „Rabatt-Blutbad“ in Südeuropa vor. US-Kunden bat er, das defizitäre Elektroauto Fiat 500e nicht zu kaufen.

Sein Konstrukt Fiat-Chrysler hielt Marchionne angesichts der technologischen Herausforderungen der Zukunft für langfristig nicht überlebensfähig. Er strebte deshalb nach einer Fusion von FCA etwa mit General Motors oder Hyundai. Das hat er bisher nicht geschafft.

Wenig Schlaf, ein rastloser Geist und (bis vor einem Jahr) ein hoher Zigarettenkonsum: Die ökomischen Anforderungen der Branche konnte der Quereinsteiger, das Auswandererkind, allesamt meistern. Seine Gesundheit bezwang ihn nun. Ganz kurz vor dem Ruhestand, in den der Workaholic Anfang 2019 hätte eintreten sollen.

"Wenn Italien ein paar weitere Marchionnes gehabt hätte, hätten wir eine wettbewerbsfähige Alitalia und einige starke Banken, die in der Welt bekannt wären", sagt Italiens Ex-Ministerpräsident Matteo Renzi. Marchionne sei jemand, der "die Industrie-Geschichte Italiens verändert hat - ob es seinen Verleumdern gefällt oder nicht".

(mit Material von dpa)