Aktion Abbiege-Assistent: Treffen von Politik, Branche und Experten
Lkw-Abbiege-Assistenten sollen Pflicht werden
Wenn ein Lkw in der Stadt rechts abbiegt, kann es gefährlich für Radfahrer werden. Bundesverkehrsminister Scheuer will den Einbau von Abbiegeassistenten verbindlich machen.
Von Haiko Prengel
Berlin - Mitte Juni starb in Berlin ein Achtjähriger, nachdem er von einem rechtsabbiegenden Lkw überrollt worden war. Er war mit seinem Rad auf dem Weg zur Schule, als er von dem Lastwagen erfasst wurde. Der Fahrer hatte den Jungen offenbar übersehen. Dessen Mutter musste das Unglück mit ansehen. Der Lkw-Fahrer erlitt einen Schock.
Zu oft kommt es zu schweren Verkehrsunfällen, weil Radfahrer oder Fußgänger von rechts abbiegenden Lastern überfahren werden. Nicht nur in Berlin, auch in Köln, Leipzig und Hannover kam es jüngst zu solchen Unfällen. Oft enden sie tödlich. Dabei sollten Abbiege-Assistenten bei Nutzfahrzeugen längst rechtlich verbindlich sein. Die entsprechende Gesetzesinitiative wurde im Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgelegt. Doch es hakt bei der Umsetzung.
Abbiegeassistent: Die Technik ist vorhanden
Technische Lösungen für Totwinkel-Assistenten gibt es. Am Lkw von Brummifahrer Richard Schneider ist eine verbaut. Vier Meter hoch ist die Zugmaschine, ins Führerhaus muss man über eine steile Leiter klettern. Da schrumpft jeder Fahrradfahrer im Außenspiegel zum kaum erkennbaren Strichmännchen. Schneider steht mit seinem Vierzigtonner an der Ampel, möchte rechts abbiegen. Plötzlich ertönt ein lautes Warnsignal, an der A-Säule und im Kombiinstrument fängt es an zu blinken. Der elektronische Abbiegeassistent hat einen Radfahrer erkannt. Schneider tritt auf die Bremse.Schneider ist Testfahrer für Mercedes. Der Konzern ist einer der wenigen Lkw-Hersteller, die aktuell ein elektronisches Assistenzsystem zur Vermeidung von Abbiegeunfällen anbieten. Befindet sich ein Radfahrer oder Fußgänger in der seitlichen Überwachungszone, erkennen dies zwei Radarsensoren und der Lastwagenfahrer wird optisch und akustisch über Warnsignale informiert. Kostenpunkt: rund 2.500 Euro plus Mehrwertsteuer. Eigentlich gar nicht so viel, wenn man bedenkt, dass ein neuer Mercedes Actros für den Fernverkehr locker 120.000 Euro kostet - in der Grundausstattung.
Verkehrsexperten verlangen schon lange die Nachrüstung von Lkw mit Abbiege-Assistenten. „Lkw ohne Abbiege-Assistenten dürfen nicht in Städten fahren“, fordert der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD). Das Problem: Solange diese Nachrüstung nicht gesetzlich verbindlich ist, scheinen die meisten Speditionen die höheren Kosten für das Assistenzsystem zu scheuen. Im Transportgewerbe sind die Gewinnmargen sehr klein. Je wirtschaftlicher (und günstiger) ein Fahrzeug, desto besser. Hinzu kommt, dass vielen Unternehmen die Billigkonkurrenz aus Osteuropa zu schaffen mache, sagt Matthias Lichter. „Da kommt eins auf das andere.“
Rund 12 Prozent der Actros kommen mit Helfer
Der Diplom-Ingenieur arbeitet bei der Nutzfahrzeugentwicklung von Mercedesin Wörth am Rhein, dem größten Lkw-Montagewerk der Welt. „Bis zu 400 Lastwagen gehen da pro Tag raus“, sagt Lichter stolz. Doch nur ein Bruchteil der neu ausgelieferten Fahrzeuge hat den neuen Abbiege-Assistenten mit an Bord. Beim Actros, dem großen Fernverkehrlaster von Daimler, liegt die Verbauungsquote bei 12 Prozent. „Tendenz steigend“, fügt Lichter an. Immerhin sei das neu entwickelte Assistenzsystem ja auch erst seit gut einem Jahr auf den Markt.Schwere Verkehrsunfälle mit rechts abbiegenden Lastwagen sind hingegen kein neues Phänomen. „Schon 2013 wies die Unfallforschung der Versicherer (UDV) nach, dass durch den Assistenten die Hälfte der Abbiegeunfälle mit Fußgängern und Radfahrern vermieden werden könnte“, erklärt Gerd Lottsiepen, verkehrspolitischer Sprecher beim Verkehrsclub VCD. Im Jahr zuvor sei ein Runder Tisch im Bundesverkehrsministerium zum Lkw-Abbiegeassistenten eingerichtet worden. Die damalige Bundesregierung habe das Thema auf EU- und UN-Ebene gebracht. „Doch seitdem verlief das Thema im Sande.“
An der technischen Machbarkeit lag es nicht: Bereits 2007 erhielt der Lkw-Hersteller MAN für die Entwicklung eines Abbiege-Assistenten einen Preis für Sicherheitsinnovationen – doch in Serie ging das Produkt nie. Dafür bietet Volvo Trucks ein kamerabasiertes Abbiege-Assistentenzsystem an: Wenn der Fahrer den Blinker zum Rechtsabbiegen betätigt, wird eine Kamera an der A-Säule aktiviert, die mittels Bildschirm im Fahrerhaus die vordere rechte Seite des Lkw anzeigt und damit dem Fahrer eine bessere Sicht ermöglichen soll.
BGL kritisiert die Untätigkeit der Hersteller
Doch an der Praxistauglichkeit gibt es Zweifel. Kamera-Monitor-Systeme seien bei weitem kein gleichwertiger Ersatz zu automatisch warnenden und zukünftig automatisch bremsenden Abbiegeassistenten, meint Martin Bulheller. Nur wenn der Fahrer den Blick direkt auf diesen Monitor richtet, kann er eine mögliche Gefahrensituation erkennen.Bulheller beobachtet die Branchentätigkeiten für den Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) in Frankfurt am Main. Der Spitzenverband vertritt die Interessen von rund 7.000 Logistik-Unternehmen und kritisiert seit Jahren die Untätigkeit der Lkw-Hersteller in Sachen Abbiege-Assistenten.
Nach der Reihe tödlicher Unfälle lud Mercedes noch einmal Pressevertreter ein, um den 2016 eingeführten Abbiege-Assistenten im Realbetrieb zu demonstrieren – mit 40-Tonner, Show-Ampel und behelmtem Radfahrer. Im Demo-Lkw, dem Actros von Testfahrer Richard Schneider, funktioniert der Abbiege-Assistent tadellos. Doch nicht für alle Nutzfahrzeug-Modelle von Mercedes ist das System lieferbar – aktuell neben Actros (Fernverkehr) nur für die Baureihen Arocs (Bauverkehr) und Econic (u. a. Müllwagen). Merkwürdig ist auch, warum der weltgrößte Lkw-Hersteller das Assistenzsystem erst vor gut einem Jahr einführte.
Im Pkw-Bereich sind Totwinkel-Assistenten schließlich schon seit geraumer Zeit Standard und in vielen Modellen Serie. Die Lkw-Sparte von Daimler verweist hier wieder auf den enormen Kostendruck im Transportgewerbe. Speditionen seien eben ganz andere „Wirtschaftlichkeitsrechnungen“ unterworfen, sagt Nutzfahrzeug-Entwickler Mathias Lichter.
Bundesregierung unter Druck
Der Bundesverband Güterkraftverkehr lässt solche Argumentationen nicht gelten. Man rufe zum wiederholten Male alle an der Zulassung und Entwicklung von Abbiege-Assistenten beteiligten Akteure dazu auf, ihre Anstrengungen zu verstärken und „beschleunigt“ zu praxistauglichen und zuverlässigen Lösungen zu kommen, erklärt der BGL.So gerät auch die Bundesregierung unter Druck. Nach den jüngsten tödlichen Verkehrsunfällen gab es Demonstrationen und Mahnwachen, in Berlin unter anderem vor dem Bundesverkehrsministerium. Doch Ressortchef Andreas Scheuer (CSU) scheinen die Hände gebunden. „Die schrecklichen Nachrichten von den tödlichen Abbiege-Unfällen mit Lkw sind nicht zu ertragen“, erklärt der Minister. Doch wenn er einen Abbiege-Assistenten in Deutschland verpflichtend einführe, drohe eine Klage wegen des Verstoßes gegen EU-Recht, weil die Vorschriften international geregelt seien. Neulich beim EU-Verkehrsministerrat habe er seine Kollegen sensibilisiert, sagt Scheuer, „weil ich kein Verständnis habe, dass das alles so langsam geht. Ich will nicht, wie es die EU plant, bis 2022 warten.“
Der Bundesverkehrsminister kündigte deshalb die „Aktion Abbiege-Assistent“ an. Dazu kommen am heutigen Dienstag alle Beteiligten ins Ministerium – Spediteure und Logistikverbände, Hersteller und Zulieferer, Radfahr- und Verkehrssicherheitsverbände, technische Prüfdienste und Verkehrspolizisten.
Attraktiv scheint jedenfalls der Imagegewinn für Firmen zu sein, die mit modernen Lkw-Flotten unterwegs sind. Der Lebensmittel-Discounter Netto hat angekündigt, bis 2019 alle Lkw seines Eigenfuhrparks mit Abbiege-Assistenten auszustatten.
Fußgängern und Radfahrern nützt es auf jeden Fall. Und ihren Lkw-Fahrern würden die Unternehmen ebenfalls einen großen Gefallen tun. Denn bei Abbiege-Unfällen erleiden sie oft ein schweres psychisches Trauma. Mitunter ein Leben lang nagt an ihnen die Schuld, einen Radfahrer oder Fußgänger übersehen und dann überrollt zu haben.
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Alles gut und schön für in Deutschland zugelassene LKW. Und was ist mit dem Rest? Persönlich begrüße ich diese Forderung, denke aber nicht, dass sich auf Grund der Vielzahl ausländischer LKW soooo viel ändern wird.
Und dieser Assistent kann dann eine neben dem Führerhaus stehende Ampel von einem Radfahrer unterscheiden?
Ich glaube eher, dieser Assistent wird ständig Fehlalarme produzieren, bis der Fahrer den Assistenten ganz abschaltet und das bringt dann überhaupt nichts.
Wir sind doch gerade geübt im Fahrverbot erteilen, also Fahrverbote in Städten für LKW ohne Assitenzsystem!
Und ganz wichtig: LKW sofort stilllegen bei Zuwiderhandlung.
Na ich glaube schon, dass sowas entsprechend getestet wird. Ständige Fehlalarme sind da nicht im Sinne des Erfinders.
Vom Prinzip her eine gute Sache, aber auch nur, wenn es als Assistent verstanden wird und nicht als "Ich muss nix mehr tun". Der Appell geht aber auch an die andere Seite, die Radfahrer. Ich bin an den Kreuzungen sehr argwöhnisch und warte lieber länger, als überfahren zu werden. Nicht nur bei Lkws und Bussen, auch bei Kastenwägen und viele Pkw-Lenker übersehen einen auch.
Außerdem hat er ganz oft das Wort "Tempo" gesagt. Ich find auch, man sollte "altere Diesel" technisch nachrüsten, ach so...hier gehts ja um LKW, auch die Abbiegeassistenten beim LKW.
Zu erwähnen wäre noch, dass die "Motortalk-Pflicht" freiwillig sein soll.
Ein echter "Scheuer"...
Offenbar plant die EU ja Ähnliches. Nur leider erst 2022.
Gelesen hab ich sowas auch schon, nur gilt sowas ja stets nur für Neuzulassungen ab XYZ. Die vielen polnischen, rumänischen, ungarischen, tschechischen und slovenischen LKW auf unseren Straßen sind aber in den seltensten Fällen neu oder nicht mal ansatzweise neu. Würde also nochmal einige Jahre dauern, bis das Ganze dann auch bei den aufgekauften gebraucht-LKW ankommt...
Bitte gleichzeitig auch...
Führerschein-, Kennzeichen- und Beleuchtungspflicht für Radfahrer
Ich erlebe täglich wie "Kampfradler" ohne Rücksicht auf Verluste, aber mit Kopfhörern bewaffnet, über die Straßen in der Stadt brettern. Dazu gibt es dann noch diverse Radfahrer, die trotz vorhandenem Radweg unbedingt auf der Straße fahren müssen, weil sie dort natürlich schneller unterwegs sind. Die Krönung sind dann noch die "Radsportler" im Rennsportoutfit, die ihrem Hobby unbedingt im öffentlichen Straßenverkehr nachgehen müssen - natürlich auf einem spartanischen Rennrad ohne Beleuchtung oder sonstigen Sicherheitsvorkehrungen.
Schon im neunten Beitrag das Wort "Kampfradler" verwendet? Glückwunsch, du erhältst jetzt einen Monat kostenlose Mitgliedschaft bei MOTOR-TALK!
Die EU sollte sich lieber mal um so etwas Gedanken machen, als um den Krümmungsgrad der Bananen.
Solange dich nur das eine Wort stört (ein anderes ist mir dazu leider nicht eingefallen), scheinst du ja mit dem eigentlichen Inhalt d'accord zu gehen. Den Trostpreis nehme ich trotzdem gerne an 😆
Der Inhalt dieser Bildunterschrift ist auch nicht neu. Diese ganzen Spiegel nutzen jedoch nur dann etwas, wenn man auch reinschaut.