Wenn 580 PS auf 1.300 Kilo, Schotter, Asphalt und fünf Gegner treffen, gewinnt meistens Johan Kristoffersson. Wir sind beim Rallycross auf dem Estering mitgeflogen.
Buxtehude – Ein kurzer Ruck am langen Hebel für die hydraulische Handbremse, ein leichter Impuls an der Lenkung – und einer der kostspieligsten VW Polo der Welt steht quer. Beinahe 700.000 Euro, knapp 580 PS, ein schwer verdienter Weltmeister und ein leicht skeptischer Journalist fliegen auf die erste Kurve des Esterings zu. Praktisch rechtwinklig zur Fahrbahn. In dieser Motorsport-Disziplin sind Anbremszonen eben häufig Anstellzonen: Rallycross wird auf permanenten Rennstrecken mit Schotter und Asphaltanteil ausgetragen. Hier wird gedriftet wie bei einer Rallye und gefightet wie bei einem Tourenwagen-Rennen. In der Weltmeisterschaft auf extrem hohem Niveau. Rallye-Legenden messen sich mit DTM-Champions, Formel-1-Piloten, früheren Extremsportlern und Spezialisten für eben diese Sportart. Am Ende gewinnt meistens der Mann, der gerade den Scheitelpunkt anvisiert: Johan Kristoffersson steht 2018 längst als Fahrer-Weltmeister fest. Den Teamtitel haben er, Teamkollege Petter Solberg und Arbeitgeber VW noch nicht fixiert. VW Polo WRX: Schneller als ein Formel-1-WagenQuelle: Volkswagen Die Taxifahrt findet während des deutschen WM-Laufs statt. Wenige Momente zuvor stach Kristoffersson noch Seite an Seite mit fünf anderen Autos in die enge erste Kurve. Jetzt ziehen wir alleine heraus. Zugegeben, ähnliche PS-Zahlen gibt es heutzutage auch in SUVs und Luxus-Limousinen, in Sportwagen sowieso. Aber dort erlebt man praktisch nie so viel Schub und eine derartige Traktion. Der 1.300 Kilogramm schwere allradgetriebene Polo beschleunigt von 0 auf 100 km/h in knapp 2 Sekunden – Formel-1-Wagen sind langsamer (ja, auch die aus der alten, geräuschintensiveren Zeit). Mitentscheidend für den Fabel-Sprintwert ist die kurze Getriebeübersetzung: Auf der rund 300 Meter langen Geraden zur zweiten Kurve legt Kristoffersson mehrmals nach. Das spürt man weniger, als dass man es hört: Während im sequenzielle Sechsgang-Getriebe das nächste Gangradpaar nachgefeuert wird, stirbt der Motor für einen Moment ab. Das führt zu einem gelegentlichen Schießen, doch der Pilot kann dank der Zündunterbrechung voll am Gas bleiben. Der Vortrieb scheint nie zu enden. Technik der WRX-Autos: 700 Nm aus 2,0 Litern HubraumQuelle: Volkswagen Von außen ist jedoch die Gaswegnahme das größte Spektakel, nicht der Kick-down: Dann schießen Flammen aus dem Auspuff. Ein Resultat der Zwangsbeatmung - der Polo erreicht nur dank Turbo-Aufladung und viel Ladedruck seine Leistung. Der Hubraum ist per Reglement auf 2,0 Liter begrenzt. Der Vierzylinder des Rennfahrzeuges nutzt die Grenze aus. Das bleibt jedoch im Service-Zelt, unser optisch identisches Testfahrzeug verfügt nur über 1,6 Liter Hubraum. Solche Motoren verbaute VW kurzzeitig in den Werkswagen für die wichtigste Amerikanische Rallycross-Serie (GRC). Dort brachte die Wahl Vorteile beim Mindestgewicht. Hier bringt sie keine Nachteile, die man vom Beifahrersitz spüren würde. „Die Spitzen sind gleich“, versichert ein VW-Techniker und meint neben der PS-Zahl das Drehmoment von unglaublichen 700 Newtonmetern. „Allerdings liegt beides minimal später an.“ Rallycross ist Motorsport zwischen Drift und LinieQuelle: Volkswagen Johan Kristoffersson bremst die nächste Kurve an, eine 180-Grad-Kehre auf Asphalt. Die Bremspunkte werden im Rallycross ein wenig zurückhaltender gesetzt als auf der herkömmlichen Rennstrecke, auch auf Sektionen mit befestigtem Untergrund. Der Asphalt ist selten sauber, ein wenig Staub nehmen die Autos aus den Schotterteilen immer mit. Was in unserem Fall hinzukommt: Der Polo trägt ungewohntes Schuhwerk. Im Rennen wird mit extrem weichen Pneus mit wenigen Rillen gefahren, in unseren breiten Radkästen stecken straßenzugelassene Semi-Slicks. Das war eine Auflage der Konkurrenz-Teams. Volkswagen sollte keinen Wettbewerbsvorteil aus den zusätzlichen Taxi-Runden mit Journalisten ziehen. Auf den Rallycross-Rennstrecken mit ihren gemischtem Untergründen ist die Abstimmung schwierig - und stets ein Kompromiss. „Man musst übererlegen wo man die meiste Zeit gewinnen kann und das Auto auf diese Stellen einstellen“, erklärt Petter Solberg. Für den einstigen Rallye- und Rallycrossweltmeister sind das meistens die Schotter-Sektionen. Möglich, dass man das bei den konkurrierenden Werksteams von Peugeot (mit drei 208), Audi (mit zwei S1) oder den privaten Herausforderern anders sieht. In wenigen Motorsportdisziplinen sind die Unterschiede bei Fahrwerksauslegung und Fahrstil so gut erkennbar wie hier. Die wesentliche Frage: Drift oder Linie? Für den Weltmeister auf dem Fahrersitz scheint das keine Grundsatzentscheidung zu sein. Nach minimalem Übersteuern in der engen Asphaltkurve wirft er den VW Polo durch die schnellen Schikanen im letzten Teil und kommt quer auf die Gerade in Richtung Start/Ziel. Hätte da überhaupt noch ein Blatt Papier zwischen das Polo-Heck und den Erdwall am Kurvenausgang gepasst? Johan Kristoffersson: 10 Siege in Elf RennenQuelle: Volkswagen Dieses Auto sei so perfekt auf ihn zugeschnitten wie ein Handschuh, erklärte Johan zur Mitte der Saison. Außerhalb des Werksteams wird niemand ein solches Fahrzeug bei VW Motorsport kaufen können, auch nicht als Gebrauchtwagen nach der Saison. Wäre ohnedies extrem teuer, Volkswagens Techniker schätzen die Kosten auf rund 700.000 Euro. Auf den letzten Cent lässt sich der Preis nicht kalkulieren, schließlich stammen viele Fahrwerksteile vom Polo WRC (World Rallye Car), mit dem man die Rallye-WM von 2013 bis 2016 dominierte. So überlegen war das Team am zweiten Tag des deutschen Rallycross-WM-Laufes zunächst nicht. In den letzten Qualifikationsrennen wurden Kristoffersson und Solberg in Gerangel in der ersten Kurve verwickelt. Ab den Halbfinalläufen lief die Sache. Kristoffersson holte seinen 10. Sieg im elften Rennen. Mit ihm standen die Audi-Piloten Matthias Ekström und Andreas Bakkerud auf dem Podest. Solberg kam im zweiten VW Polo auf Rang fünf, womit Volkswagen (konkret: PSRX Volkswagen Sweden) ein Rennen vor Schluss als Team-Weltmeister feststeht.
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